Estland - Paradies gesucht, Perle gefunden!

 

Allmählich gewöhnte ich mich an den stetigen Wechsel der Länder auf meiner Reise um die Ostsee. Estland war bereits Land Nummer fünf, drittes und damit letztes Land im Baltikum. Als eines der flachsten Länder Europas eignete sich Estland bestens zum Radfahren.

 

Nicht weit hinter der lettisch-estnischen Grenze, als ich durch das kleine Dorf Treimani radelte, entdeckte ich ein wahres Schätzchen: das Treimani Muuseum. Liebevoll wurden hier alte Haushaltsgegenstände aus der Region und Fischereiausrüstungen vergangener Zeiten präsentiert. Zu jedem einzelnen Objekt gehörte eine handschriftlich verfasste Erläuterung. Der Museumsinhaber, ein hochbetagter Mann namens Ants, führte mich höchstpersönlich durch die Sammlung und erklärte mir jedes Detail auf Estnisch.

In ihren Bann zog mich eine Multifunktionsschere. Mit diesem kleinen Gerät konnte man alles Mögliche anstellen, zum Beispiel Glas schneiden oder durch ein integriertes Fenster schauen, um eine Figur zu erblicken.

Außerdem setzten mich alte Polizeipfeifen, medizinische Apparaturen wie beispielsweise Spritzen und eine hundert Jahre alte Brille, die exakt meine Dioptrienwerte aufwies, in Staunen.

Beschwingt durch dieses wunderbare Museumserlebnis fuhr ich weiter an der Küste entlang in Richtung Norden und kam am Mittag an einem Ferienkomplex bei Jaagupi an. Ich erreichte diesen Platz im richtigen Moment, denn im Strandrestaurant wurde gerade eine Hochzeit gefeiert. Die Braut trug ein weißes Kleid zu pinkfarbenen Haaren, was vor dem Hintergrund des türkisfarbenen Meeres ein besonders hübsches Farbenspiel ergab.

Glücklicherweise hatte das Restaurant trotz Hochzeit seine Tore auch für ausgehungerte Langstreckenradler geöffnet, sodass ich mich gemütlich auf die Veranda setzen und den Ausblick auf Meer und Hochzeitsgesellschaft genießen konnte. Während ich auf mein Essen wartete, bekam ich einen schmackhaften Gruß aus der Küche gereicht. Ich fühlte mich wie in einem Fünf-Sterne-Hotel und kam mit der jungen, hübschen Kellnerin, die mich hervorragend und zuvorkommend bediente, ins Gespräch. Ortskundig gab sie mir den entscheidenden Tipp für meine weitere Estland-Tour: Die Inseln an der Westküste sollen traumhaft sein und nicht von Touristen überlaufen. Gäste aus Skandinavien kämen gerne dorthin, und Einheimische würden dort Zeit in ihren Sommerhäuschen verbringen.

 

 


 
In der Nacht zum 4. Juli zeltete ich irgendwo kurz vor Uulu, umgeben von Wald, Moor und Meer. Ein einsamer Spaziergänger kam zu später Stunde bedenklich nahe, beachtete mein Zelt aber nicht oder tat zumindest so, als ob er es nicht gesehen hätte.

 

Pärnu (deutsch: Pernau) liegt direkt an der Nationalstraße 4, die als Teil der Europastraße 67 (Prag-Helsinki) Riga mit Tallinn verbindet. Die estnische Hafenstadt am Rigaischen Meerbusen gilt als Sommerhauptstadt Estlands. Günstige Lage, mildes Klima und breiter Sandstrand machen Pärnu zu einem beliebten Kur- und Badeort. Zu Beginn jeder Sommersaison übergibt der Bürgermeister von Tallinn symbolisch die Hauptstadtrechte an den Bürgermeister von Pärnu.

Der private Mini-Zeltplatz im Herzen von Pärnu war auf keiner Karte verzeichnet. Auch ich stieß nur zufällig auf ihn, da mir ein unscheinbarer Flyer in die Hände geflattert war. Dem Hinweis auf diesem Flyer folgend, stand ich ein paar Minuten später tatsächlich auf diesem Zeltplatz.

„Welcome at my Campground! Where are you from?“, begrüßte mich die Besitzerin sehr freundlich, als ich ihren Garten betrat. „For how many nights?“ Ich antwortete, sie rechnete. Fertig gerechnet, präsentierte sie mir die Lösung:  „That will be 24 Euro.“

Auch der nächste Gast wurde genauso freundlich begrüßt: „Welcome at my Campground! Where are you from?“

An den Wänden der kleinen Küche, die im Garten eigens für Camper errichtet war, klebten Stadt- und Landkarten sowie allerhand nützliche Informationen. Im Kühlschrank und in den Regalen lagerten frische Lebensmittel zur allgemeinen Verfügung. Das kleine Badehäuschen machte ebenfalls einen nigelnagelneuen und gepflegten Eindruck. Glücklich, diesen vergleichsweise luxuriösen Zeltplatz gefunden zu haben, ließ ich mich dort gleich für zwei Nächte nieder.

Den nächsten Tag plante ich ausschließlich für die eigene Körperpflege ein und machte deshalb „blau“ im Waterpark von Pärnu. Trübes Wasser in überfüllten Minibecken war nicht unbedingt das, was ich mir erhofft hatte, und es rechtfertigte in keiner Weise den Eintrittspreis. Wenigstens boten mir die Rutschen mit Zeit- und Geschwindigkeitsanzeige Spaß und Abwechslung. Trotzdem rate ich jedem Pärnu-Besucher, besser den drei Kilometer breiten Sandstrand aufzusuchen - das eindeutig angenehmere Badeerlebnis.

Tim aus Magdeburg schlief ebenfalls auf dem Pärnu-City-Zeltplatz. Er war genau wie ich auch gerade dabei, mit seinem Rad die Ostsee zu umrunden. Da er jedoch – im Gegensatz zur mir – mit dem Uhrzeigersinn fuhr, hatte er den Wind im Rücken und damit das Glück an seiner Seite. Wie ich wurde auch er am zweiten Tag unseres Pärnu-Aufenthaltes Zeuge einer gewaltigen Zeltplatzinvasion. Gerade noch in mein Buch vertieft lag ich friedlich auf der Wiese, als plötzlich wie aus dem Nichts sehr viele Menschen auftauchten, vermutlich eine Reisegruppe. Jeder von ihnen baute sein eigenes Zelt auf. Emsig gingen sie ans Werk, bis kein Fleckchen Wiese mehr zu sehen war.

Dank Wetterapp, die ich mir an einem der zahlreichen Free-Wifi-Spots aufs Handy geladen hatte, packte ich am Morgen dieses 6. Juli gerade noch rechtzeitig meine sieben Sachen zusammen, bevor es in Strömen zu regnen begann. So blieb mein Zelt trocken. Die Reisegruppe jedoch hatte den richtigen Zeitpunkt verpasst und musste ziemlich bedröppelt unter dem Küchendach ausharren, bis der Regen nachließ.

Für mich ging es auf zur nächsten Station Lihula.

 

Auf der befahrenen Straße Nummer 60 nach Lihula fuhr ein Auto übertrieben vorsichtig an mir vorbei und kam ein paar 100 Meter weiter, vor einer Straßenkarte, zum Stehen. Ich hielt ebenfalls an, um zu schauen, wie weit entfernt ich noch von Lihula war. Der Fahrer ließ die Scheibe herunter und merkte an, dass es ziemlich gefährlich sei, mit dem Rad auf dieser Straße zu fahren. Ich gab ihm zu verstehen, dass das für mich schon lange nichts Ungewöhnliches mehr sei und wollte von ihm noch wissen, weshalb er so gut Englisch spreche. Da stellte sich heraus, dass er ein amerikanischer Chemiker auf dem Weg zu einem Kongress nach Haapsalu war. Er interessierte sich sehr für meine Reise, stellte gefühlt über tausend Fragen und wunderte sich am Ende sehr darüber, dass ich so sauber aussah, wenn er bedenke, dass ich jede Nacht campte.

Da hatte sich der Waterpark Pärnu ja doch noch gelohnt!

 

In der westestnischen Landgemeinde Lihula eingetroffen, bestellte ich mir ein Bier, dazu eine Portion Pommes der perfekte Radlerimbiss für heiße Tage.

In diesem Ort gab es viele Ruinen alter Burgen, Kirchen und Festungen aus der Zeit, als Lihula Bischofssitz war, zu bestaunen. Längeren Halt machte ich vor einer besonders eindrucksvollen russisch-orthodoxen Kirchenruine. Dach und Fenster waren längst herausgefallen, Farben und Formen nur noch zu erahnen. Im Inneren der Ruine wuchs meterhoch Gras. Zutritt war strengstens verboten, aber selbst von außen betrachtet, wirkte diese Kirche mystisch.

 

Wie am Ende jedes Tages begab ich mich auch am Abend des 7. Juli auf die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz. Sie führte mich, als es bereits zu dämmern begann, auf ein unbestelltes Feld etwas abseits einer Siedlung. Hier wollte ich erst einmal abwarten, um einzuschätzen, ob sich diese Stelle überhaupt zum Zelten eignete. Menschen ließen sich keine blicken. Trotzdem war ich auf diesem Feld nicht völlig allein. Eine Fuchsfamilie leistete mir Gesellschaft. Auf ihrem Streifzug über das Feld lief die Fähe direkt an mir vorbei, um dann weiter in einem benachbarten Hof auf die Pirsch zu gehen. Währenddessen tollten die Kleinen um einen Stapel Heuballen herum. Aus angemessener Entfernung konnte ich das muntere Treiben beobachten, und wenig später schlug ich dort mein Zelt auf.

 

Ähnlich wie Pärnu ist auch Haapsalu ein mondäner Kurort, bekannt für sein mildes Klima und seinen Heilschlamm. Wegen seiner vielen Wasserläufe wird der Ort an der estnischen Westküste auch „Venedig des Nordens“ genannt.

Als ich in Haapsalu eintraf, steuerte ich zuallererst den Bahnhof an. Der amerikanische Chemiker hatte mir nämlich tags zuvor den Tipp gegeben, diesen im Jahre 1907 erbauten Bahnhof zu besichtigen. Mit einer Länge von 216 Metern besaß er Anfang des 20. Jahrhunderts den längsten überdachten Bahnsteig Nordeuropas. Der russische Zar Peter der Große hatte dieses Bahnprojekt unterstützt, denn die Mitglieder der Zarenfamilie schätzten Haapsalu als Kurort sehr. Weil der Zug der russischen Zarenfamilie ziemlich lang war, musste der Bahnsteig extra an die Überlänge des Zuges angepasst werden.

Seit 1996 halten an diesem Bahnhof keine Züge mehr, sie stehen heute, auf den Gleisen abgestellt, zur Besichtigung bereit. Das estnische Eisenbahnmuseum, das sich im Bahnhofsgebäude befindet, und der Pavillon der Zarenfamilie zeugen noch vom Bahnhofsleben vergangener Zeiten. In heutiger Zeit ist das Areal ein Ort für schöne Fotomotive, ein beliebter Drehort für Filme, und auch Hochzeiten werden dort gerne gefeiert. Während ich den Bahnhof inspizierte, fand gerade eine russische Hochzeit statt.

Bevor ich mit der Besichtigung Haapsalus fortfuhr, beschloss ich, etwas zu essen. Ich wählte eines der zahlreichen Fischrestaurants auf der Promenade und bestellte frischen Fisch. Die Scholle wäre köstlich gewesen, nur leider gab es mehr Gräten aus dem Mund zu fischen, als Fisch in den Mund zu grätschen. So wurde ich wieder einmal nicht richtig 

 
Was wahrscheinlich nur wenige wissen: Die Illustratorin der Kinderbücher von Astrid Lindgren Ilon Wikland stammte aus Haapsalu. Die estnisch-schwedische Künstlerin bebilderte die meisten Werke Lindgrens und beeinflusste auf diese Weise die Vorstellung von Figuren wie den Kindern aus Bullerbü, Madita und Pims oder den Gebrüdern Löwenherz. Die mittelalterliche Bischofsburg von Haapsalu inspirierte sie zur Zeichnung einer Vorlage für die Mattisburg Hauptschauplatz im Kinderbuch „Ronja Räubertochter“.

 

Auf dem ehemaligen Bahndamm, entlang der Strecke Riispiere-Haapsalu-Rohuküla, wurde ein sechzig Kilometer langer sogenannter Gesundheitsweg für Radfahrer und Fußgänger angelegt. Fernab vom Autoverkehr radelte ich diesen wunderschönen Weg bis zum Hafen von Rohuküla, wo große Autofähren auf die westestnischen Inseln Vormsi und Hiiumaa ablegten. Mein erstaunlich preiswertes Ticket, das ich am Schalter erwarb, berechtigte mich zur Überfahrt auf Estlands zweitgrößte Insel: Hiiumaa (deutsch: „Taginsel“, schwedisch: „Dagö“).

Nach neunzigminütiger Überfahrt fand ich mich im Paradies wieder. Wer Ruhe und Abgeschiedenheit sucht, wird dort in Estlands waldreichster Gegend zweifellos fündig: leere Straßen (alle zehn Minuten vielleicht fuhr ein Auto vorbei), wenige Menschen, seltene Orchideen, Schmetterlinge und ab und zu ein vom Aussterben bedrohter Weißschwanzadler, intakte Natur in saftigem Grün und meerfarbenem Blau. Wie eingestreut das ein oder andere Sommerhaus.

So viel Glück musste ich festhalten und verlängerte meinen Inselaufenthalt auf zwei Übernachtungen.

Meine Glückssträhne riss nicht ab. Wenig später machte ich am südöstlichen Zipfel Hiiumaas einen Naturcampingplatz ganz einfacher Art ausfindig. Weder Rezeption noch Sanitäranlagen waren vorhanden, dafür viel Platz und Geborgenheit. Durch wilden Pflanzenwuchs waren überall kleine Nischen entstanden, in denen ich, vom Wind geschützt, mein Zelt ausbreiten konnte. Zwischen all den freien Nischen hatte ich nun die Qual der Wahl, denn noch war ich die einzige Camperin. Bald stand mein Zelt, die Sonne schien und der Wind hatte sich gelegt. Ideales Wetter zum Baden und Erkunden. Ein paar Stündchen lag ich faul am Strand, hielt dann das schöne Panorama auf Fotos fest, schrieb mein Tagebuch und verbrachte viel Zeit mit Beobachtungen. Vom Schauen satt, machte ich mich auf, die Insel zu erkunden, die vor rund 455 Millionen Jahren durch einen Meteoriteneinschlag entstanden war.

Abenteuerlustig schwang ich mich ohne Gepäck auf mein Rad und reihte mich unbeabsichtigt mitten in eine estnische Radmeisterschaft ein. Streckenposten an einer Kreuzung baten mich, kurz abzusteigen und zu warten, bis der größte Schwung vorübergezogen sein würde. Die Profiradsportler hechelten an mir vorbei. Um keinen Preis der Welt wollte ich mit ihnen tauschen. Wie die wohl erst schwitzen mussten?

Ich verschaffte mir Abkühlung in einem der Inselnationalparks. Hier konnte ich Tiere beobachten, mir einen landschaftlichen Überblick verschaffen und meine Gedanken schweifen lassen. So vor mich hin träumend, stand ich auf einmal auf einer Holzbrücke. Es war so ruhig, dass ich glaubte, das Gras wachsen zu hören. Da stand plötzlich eine Herde Schafe hinter mir. Wo kamen die auf einmal her? Haben sie sich angeschlichen? Anders konnte ich mir nicht erklären, wie sie sich, von mir unbemerkt, bis auf die Brücke vorgearbeitet hatten.

Nun ja, eigentlich war ich der Eindringling. Darum machte ich den Weg frei und ließ sie passieren.

Drei herrliche Inseltage gingen vorüber ohne Strom, ohne Internet, ohne fließendes Wasser, dafür mit Erlebnissen in paradiesischer Natur.

 

Am Abend des 11. Juli schlug ich inzwischen der estnischen Hauptstadt Tallinn sehr nahegekommen auf einem hoffnungslos überteuerten Campingplatz mein Zelt auf. Bevor es ein paar Tage später mit der Fähre von Tallinn nach Helsinki gehen sollte, wollte ich meine Wäsche noch einmal waschen und alle elektrischen Geräte aufladen. Es war stockduster. Ich sah so gut wie nichts, hörte dafür umso besser. Dicht neben meinem Zelt hörte ich nämlich, wie sich jemand räusperte. Einmal, zweimal, ziemlich ungeniert. Da ist wohl im Nachbarzelt jemand mit einem Schnupfen, vermutete ich.

Wie sich morgens herausstellte, lag ich mit dieser Vermutung völlig daneben: Winzige Pferdchen mit wasserstoffblonden Mähnen grasten auf einer Koppel direkt hinter meinem Zelt. Solche Pferde hatte ich noch nie gesehen. Was für eine Rasse war das bloß?

 

Blonde Haare, blaue Augen und eine markante Gesichtsform: Mikk sah aus wie ein Wikinger, aber ohne kriegerische Absichten. Ganz im Gegenteil zeichnete sich dieser estnische Jüngling durch Sanftmut aus. Wir lernten uns am Strand von Tallinn (deutscher Name: Reval) kennen. Während ich in der Sonne vor mich hin brutzelte, sprach er mich freundlich-zurückhaltend an. Als Mikk hörte, dass ich auf der Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht war, bot er mir seinen Garten zum Zelten an. Ungünstigerweise befand sich dieser Garten fernab vom Tallinner Zentrum, von wo aus in ein paar Tagen meine Fähre nach Helsinki ablegen sollte. Also mussten wir eine andere Lösung finden. Da Mikk in Tallinn aufgewachsen war, kannte er die Stadt und ihre Umgebung wie seine Westentasche. Recht schnell fiel ihm eine Stelle am Ostseeufer ein, die Nähe zur Altstadt und zur Wildnis gleichermaßen bot. Zum Glück war auch er mit dem Rad unterwegs, und so fuhren wir gemeinsam dorthin. Nach einem kurzen Halt an einem Supermarkt, wo Mikk kurz hineinsprang und gleich darauf wieder herauskam, setzten wir unsere Fahrt fort. Am Ziel angekommen, wollte ich es kaum für möglich halten, dass es mitten in der Großstadt Tallinn so wilde Natur gab. Kurz: Für meine Ansprüche war diese Stelle optimal.

Als Mikk dann noch zwei Eis (das also hatte er auf die Schnelle im Supermarkt besorgt) aus seinem Rucksack zauberte, konnte ich mir den Tagesabschluss nicht besser  vorstellen.

Gemeinsam wurden wir Zeugen, wie die Sonne langsam und nahezu filmreif am Horizont verschwand. Dann radelte Mikk nach Hause und ich blieb allein zurück. Ich kroch in mein Zelt und warf noch ein letztes Mal in dieser Nacht einen Blick hinaus. Da tauchte dicht vor mir ein Fuchs auf. Wie in Schockstarre schauten wir uns beide an. Auch der Fuchs schien nicht recht zu wissen, was zu tun war. Erst als ich ihm mit einem „Ksch, Ksch“ zu verstehen gab, dass mein Zelt nicht sein Bau war, zog er von dannen.

 

Da im sommerlichen Baltikum kaum ein Tag vergeht, an dem kein Festival stattfindet, wunderte ich mich nicht, dass auch während meiner Anwesenheit in Tallinn, das übrigens übersetzt „die dänische Stadt“ heißt, ein ebensolches stattfand. Ich erwischte das Internationale Festival für Gartendesign. Über die ganze durchgängig kopfsteingepflasterte Altstadt, die seit 1997 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, verteilt, entdeckte ich Blumen- und Gartenarrangements, von hübsch bis experimentell war alles vertreten. Vor einem spaßigen Ausstellungsstück, einer Art Fahrradreifen-Roulette mit schicksalhaften Prophezeiungen, blieb ich stehen. Da sprach mich ein sichtlich betagter, aus Taiwan stammender Mann an. Er hatte sich mir auf einem Roller genähert und redete so schnell, dass ich ihm nur mit Mühe folgen konnte. Es hatte sich trotzdem gelohnt, genau hinzuhören, denn wenig später logierte ich im gut ausgestatteten Tallinner Old Town Alur Hostel, dessen Übernachtungspreis deutlich niedriger war als eine durchschnittliche Zeltplatz-Übernachtung. Ein weiterer Pluspunkt war: Von dort aus würde ich am nächsten Morgen um sechs Uhr meine Fähre in etwa zehn Fahrrad-Minuten erreichen. Für ein Hostel war alles ungewöhnlich schick, die hellen Altbauwände mit Stuck verziert, die Waschräume gepflegt, das Mobiliar wie neu. Auf den ersten Blick wirkte das Hostel ganz und gar nicht so, als würde es dort zugehen wie im Taubenschlag. Ging es aber. Ich hatte großes Glück, noch ein freies Bett zu ergattern. Wenig später war alles restlos ausgebucht. Ich bekam ein Sechs-Bett-Zimmer zugewiesen, das ich mir mit fünf Männern teilen musste, Rucksacktouristen aus verschiedensten Ländern. Einer von ihnen war der Australier Will. Gerade von seinem Tagestripp aus Helsinki zurückgekehrt, wollte er nun weiter durch Europa ziehen, so lange, bis sein Geld aufgebraucht sein würde.

Um all die Eindrücke aus Tallinn, der schönen Stadt am Finnischen Meerbusen, zu verarbeiten, setzte ich mich in eines der Altstadtrestaurants, genoss zur Feier des Tages ein kühles Bier zur Fischsuppe und sah mit Wehmut auf die vergangenen drei Wochen zurück. Nicht nur meine Tallinn-Erlebnisse musste ich verarbeiten, nein, auch realisieren und akzeptieren, dass hier und jetzt meine Reise durch das Baltikum zu Ende ging. Wieder einmal Zeit, sich zu verabschieden.

Ich werde dich vermissen, du erfrischend unspektakuläres Baltikum!

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