Fließender hätte der Übergang von Finnland nach Schweden nicht verlaufen können: Die finnische Stadt Tornio und die schwedische Stadt Haparanda liegen hoch oben im Norden eng beieinander und bilden zusammen eine Zwillingsstadt. Grenzkontrollen gab es keine.
Ungefähr dort, wo die politische Grenze verlief, stand ein riesengroßer blauer Würfel: Ikea. Als ich den sah, war ich mir sicher, in Schweden angekommen zu sein. Mit der Ankunft im neuen Land rutschte ich automatisch in eine andere Zeitzone – nämlich eine Stunde zurück in die Zone der mitteleuropäischen Sommerzeit.
Wer gerne Silvester feiert, kann das Feuerwerk in Haparanda-Tornio gleich doppelt sehen, auch ohne Alkohol.
In der Absicht, den 1589 Kilometer langen Europaväg 4 (schwedisch für Europastraße 4), der sich von Haparanda im Norden bis nach Helsingborg im Süden durch ganz Schweden zieht, zu meiden (Autobahncharakter), verfuhr ich mich in den unendlichen Weiten Schwedisch Lapplands. Zum Glück führte mich die Irrfahrt ins beschauliche Küstenörtchen Haparanda Hamn. Dort, versteckt hinter schwedischen Fichten, verbrachte ich die erste Nacht im siebten Land meiner Bernsteintour. Waldarbeiter und Hundebesitzer spazierten am nächsten Morgen dicht an meinem Zelt vorbei. Ich grüßte sie freundlich und machte mich, nachdem alles zusammengepackt war, rechtzeitig auf, um die herrliche Morgenstimmung am Nordzipfel der Ostsee einzufangen.
Kalix, an der Mündung des Flusses Kalixälven gelegen, hieß mein Tagesziel am 1. August. Überwiegend auf Schotterpisten ging es durch den Wald – bergauf, bergab. Hin und wieder kreuzte ein Rentier meinen Weg. Rentiere haben nämlich auf schwedischen Straßen Vorfahrt. Seelenruhig überqueren sie die Straßen oder nutzen diese als Wanderroute, während Autos vorsichtig hupend, in Schrittgeschwindigkeit an ihnen vorbeimanövrieren. Zu dieser Zeit des Jahres waren die Geweihe der Rentiere von zartem Flaum überzogen. Richtig kuschelig sah das aus.
Kurz vor Kalix stieß ich am Wegesrand auf ein kleines Café. Ich war hocherfreut, denn einen Laden hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Zwei junge, blonde Frauen verkauften selbstgemachten Kuchen, Torten und andere Leckereien. An der Kasse bekam ich dann allerdings einen Schreck: Weder schwedische Kronen noch Öre befanden sich in meinem Portemonnaie. Wo sollte ich die jetzt so schnell herbeizaubern? In allen Ländern zuvor ließ sich auf einfache Weise in Euro oder mit EC-Karte bezahlen. Der Kuchen lag schon verlockend auf dem Teller, bereit meinen Bärenhunger zu stillen. Und dann hatte ich tatsächlich unverschämtes Glück: Der Kuchen ging „aufs Haus“.
Gestärkt und aufs Neue motiviert nahm ich meine Fahrt wieder auf. Vor mir lagen in Nord-Süd-Ausdehnung 1500 Kilometer schwedische Küstenstrecke, die ich vom 1. bis 31. August zu absolvieren gedachte.
Noch ahnte ich nichts von den Strapazen, die auf mich lauerten und mich in den folgenden Wochen ganz besonders herausfordern würden.
Vorerst durfte ich wählen: zwischen der schnell befahrenen Europastraße 4, überwiegend einspurig, ohne Seitenstreifen, mit eng angrenzenden Leitplanken zu beiden Seiten, oder endlos langen, wenig zielführenden Umwegen, die wiederum durch die schönsten und weitläufigsten Naturparks Schwedisch-Lapplands führten.
In der Provinz Norrbottens län, wo sich mit dem Kebnekaise der höchste Berg (2.111 m) und dem Hornavan der tiefste See (232 m) Schwedens befinden (Wikipedia), entschied ich mich für die schnellere, aber auch nervenaufreibendere Variante. Auf diese Weise ließ ich zwar einige Kilometer hinter mir, konnte jedoch weder Natur noch Kultur genießen.
Nachdem ich dann am 2. August der Europastraße entkommen war, fand ich mich mitten im tiefen Wald an einer einsamen Stelle, wie geschaffen fürs Zelten, wieder. Hohe Bäume, ein klarer See, ein wackliger Steg und der frische Duft des Waldes boten mir Ruhe und notwendige Erholung und machten diese Oase schließlich zur Bühne für ein einzigartiges Naturschauspiel: Am nächsten Morgen, vor dem Zelt sitzend, bemerkte ich, wie sich mir etwas näherte: Zielstrebig galoppierte ein Rentier mit imposantem Geweih auf mich zu. Unter seinen Hufen vibrierte der Waldboden. Dieser stattliche Bursche wollte mich doch nicht etwa umrennen? Gedanklich schon auf einen Angriff vorbereitet, überlegte ich fieberhaft, wo mein Messer steckte. Eigentlich, überlegte ich, sind diese Tiere doch alles andere als aggressiv. Mir wurde klar, dass das Tier gar nicht mit mir gerechnet haben konnte und deswegen ganz sicher nicht in feindlicher Absicht kam. Sein Ziel war die Wasserstelle unten am See. Vermutlich kam es jeden Tag zum Trinken hierher. Wahrscheinlich musste ich das Rentier nur auf meine Anwesenheit hinweisen. So räusperte ich mich geräuschvoll. Und tatsächlich – es blieb sofort stehen, hielt inne, schaute mich an, dachte offensichtlich nach. Dann wirkte es offensichtlich verwirrt. Auch ich war unsicher: Wie würde es reagieren? Von Angesicht zu Angesicht stand fest, wer der Stärkere ist. Überraschenderweise und zu meiner großen Erleichterung schlug das Tier auf einmal einen Haken und lief in großem Bogen an mir vorbei und weiter zur Wasserstelle.
Damit war das Spektakel aber noch nicht vorbei. Auf derselben Route kam nun – abermals im Galopp – das Rentierweibchen samt Jungtier herbei. Mittlerweile routiniert im Umgang mit durstigen Rentieren räusperte ich mich wieder. Diese beiden waren noch etwas vorsichtiger und reagierten schnell. Sie horchten auf und drehten sofort ab. Auf ans sichere Ufer!
Mir schlotterten noch Stunden später die Knie.
Heißer als jeder Tag zuvor war der 3. August. Meine Konzentration litt unter dieser klimatischen Ausnahmesituation enorm. Schließlich passierte es: Irgendwo im nordschwedischen Gelände zwischen den Städten Kalix und Råneå bog ich falsch ab und verlor vollkommen die Orientierung. Zu allem Unglück waren inzwischen beide Wasserflaschen bis auf den letzten Tropfen geleert, meine Speisevorräte längst aufgebraucht und ein Laden tauchte weit und breit nicht auf. Verwunderlich war das nicht, ist doch diese Region in der Provinz Norbottons län eine der am dünnsten besiedelten Gegenden Schwedens (2,4 Einwohner pro Quadratkilometer).
Verzweifelt schöpfte ich Wasser aus einem See in die Flaschen, um für den Notfall gewappnet zu sein. Obwohl das Seewasser einen recht sauberen Eindruck machte, sah es in den Trinkflaschen matschig braun aus. Doch auf Verdursten hatte ich keine Lust!
Vor mir lag nichts als unwegsame Strecke – ohne Rast – oder Tankstelle, ohne einen noch so kleinen Laden. Nur noch äußerst mühsam ging es nun voran. Jetzt war Zähnezusammenbeißen angesagt! Saft- und kraftlos kämpfte ich mich unter der erbarmungslos gleißenden Sonne voran. Schließlich fiel ich vollkommen erschöpft, wie ein ausgetrockneter Sack, vom Rad. Knie und Ellenbogen hatte ich mir aufgeschrammt, merkte davon aber so gut wie nichts. Um neue Kraft zu schöpfen, blieb ich vorerst liegen. Einem einsam an mir vorüberziehenden Auto winkte ich matt zu. Doch es fuhr weiter. Und eigentlich wollte ich auch diese Durststrecke aus eigener Kraft bewältigen.
Ich weiß bis heute nicht, wie ich in den Ort Töre gekommen war. Dort gab es einen Supermarkt, den ich sofort plünderte. Die Getränkeabteilung
war nach meinem Besuch sichtbar leerer als zuvor.
In Bezug auf die Entfernung verschätzte ich mich in Schweden jeden Tag aufs Neue. Mein Pensum, das ich im Vorfeld grob geplant hatte, konnte ich unmöglich einhalten. Noch dazu stellten mich die extreme Hitze, der Gegenwind und das permanente Auf und Ab vor ungeahnte Herausforderungen. Mir kam es vor, als ob ich pausenlos gegen einen unüberwindbaren Widerstand anträte.
Dann überfiel mich am 5. August ein gewaltiges Gewitter – das erste übrigens seit meinem Bernsteinstart im Juni. Immerhin eine kleine Abkühlung! In Raneå fand ich auf der Veranda einer Pizzeria Zuflucht – und Strom für meine elektrischen Geräte. Das Gewitter wütete die halbe Nacht, die zweite Hälfte nutzte ich, um meine Route fortzusetzen. Es nieselte zwar noch zaghaft, aber das störte mich nicht im Geringsten. Gegen drei Uhr morgens ging die Sonne auf, und wenig später erreichte ich Luleå, eine Stadt in der nordschwedischen Provinz Norrbottons län. Am Ortseingang übermannte mich bleierne Müdigkeit. Schlaftrunken schleppte ich mich bis zur nächsten Badestelle. Nur kurz ausruhen wollte ich mich dort, fiel aber sofort in einen tiefen Schlaf und erwachte erst Stunden später wieder.
Mittlerweile – gegen 9 Uhr – war in die Stadt Luleå Leben eingekehrt.
Es war die perfekte Zeit für einen gemütlichen Stadtbummel.
Kurz darauf ging die Bernsteintour weiter.
In der Siedlung Lassbacken durchbrach ich schließlich die magische 4000-Kilometer-Marke. Das nahm ich zum Anlass, um noch einmal auf meine Spendenaktion „Für die Wale an die Pedale“, zu der ich über die Internetplattform des WWF aufrief, hinzuweisen. Jeden Kilometer, den ich auf meiner Radtour zurücklegte, widmete ich den Schweinswalen, die in der Ostsee beheimatet sind. Jede Spende sollte einen Beitrag zum Erhalt dieser seltenen Tiere leisten. Unter dem Stichwort „Lassnochbisschenwasspenden“ wollte ich noch ein paar Spender mehr mobilisieren.
Besonders unter Schweden und Norwegern gilt die Stadt Piteå, an der Südküste Schwedisch-Lapplands, als beliebtes Urlaubsziel. Cafés, Bars und Restaurants waren an jenem Samstag, an dem ich dort eintraf, gut besucht. Es herrschte ausgelassene Sommerurlaubsstimmung. Ein Straßenmusiker spielte zu Eagle-Eye Cherrys „Save Tonight“ Gitarre.
Ich bestellte ein Bier und beschloss, den Abend entspannt ausklingen zu lassen.
Allmählich gewann ich den Eindruck, die Etappen würden immer eintöniger, die Steigungen immer steiler und die Tage immer heißer. Und der Gegenwind war mein ständiger Begleiter. Mit solch einem bergigen Hinterland in Schweden hatte ich nicht gerechnet.
Täglich musste ich mich aufs Neue motivieren, um das Rad mit mir und Sack und Pack ein gutes Stück voranzubringen. Wer sollte es auch sonst
tun? Da kam er zum Vorschein, der Nachteil des Alleinreisens. Niemand, der mich puschte oder wenigstens nett lächelnd ein paar aufmunternde Worte übrig hatte. Aufgeben jedoch war keine Option!
Nach sieben durchquerten Ländern konnte ich jetzt nicht einfach das Handtuch werfen. Trotzig wie ein Kind fuhr ich weiter. Ich machte mir bewusst, was für ein Geschenk diese Reise im Grunde
genommen war. Schließlich hatte ich das Privileg, vier Monate lang nur das zu tun oder zu lassen, was ich wollte. So verwandelte ich Stück für Stück meine Frustration in Dankbarkeit.
Die Landschaft in der nordschwedischen Provinz Västerbottens län war malerisch, geradezu bilderbuchidyllisch. An Fotomotiven mangelte es mir nicht. Doch welch seltenes Naturereignis überraschte mich am 7. August dieses bombastischen Sommers 2018? Richtig: Regen!
Trotz dieses Erfrischungssegens der Natur erreichte ich das verschlafene Örtchen Bastuträsk mehr tot als lebendig. Auch der Ort wirkte wie ausgestorben, weit und breit keine Menschenseele. Umso mehr überraschte mich sein Bahnhof. Von außen war er völlig unscheinbar. Doch als ich das Gebäude betrat, staunte ich darüber, dass der Bahnhof alles hatte, was ich mir als Reisende wünschte: Touristeninformationsbroschüren, Kaffeeautomaten, kostenfreies Wifi, Tische, Bänke mit Kissen bestückt, eine kleine Reisebibliothek, Kleiderständer mit hübschen Sachen zum Kaufen, Strom, Sanitäranlagen. Und vor allem war es schön warm. Die kühlen Nächte hoch oben im Norden hatten es nämlich selbst im Hochsommer in sich. Da es an diesem Tag nicht aufhörte zu regnen und in Anbetracht des komfortablen Bahnhofs, beschloss ich, dort vorerst auszuharren. Das Angebot der Bahnhofsvorsteher - eines freundlichen Pärchens -, im Bahnhof zu übernachten, nahm ich erschöpft, ausgekühlt und dankbar an. Nach so vielen Tagen der Wanderschaft endlich wieder ein richtiges Dach über dem Kopf zu haben fühlte sich verdammt luxuriös an!
Erstaunlich, welche Kraft der Körper aus dem Schlaf zieht! Am nächsten Tag war ich wieder topfit. Der Bahnhofsvorsteher gab mir noch eine detaillierte Streckenbeschreibung mit auf den Weg. Und auf ging es in Richtung Vindeln!
Wie geschmiert lief es am 9. August, mit spürbar weniger Steigungen. Dafür durchschlängelten umso mehr Windungen die wunderschöne Wälder- und Seenlandschaft rund um Vindeln am gleichnamigen Gebirgsstrom Vindeln (schwedisch: Vindelälven). Der 450 Kilometer lange Fluss gehört zu einem der letzten unberührten Flüsse Europas und darf weder reguliert noch zur Wasserkraftnutzung ausgebaut werden. Mit seinen über 40 Stromschnellen ist er bei Rafting-Sportlern äußerst beliebt. (Wikipedia)
Unweit von Vindeln gelangte ich an eine ausgesprochen schöne, etwas versteckt gelegene Bade- und Campingstelle – mit Sprungturm, Sprungbrettern und einem langen Steg, der in einen klaren, ruhigen Seitenarm des Fluss Vindeln führte. Dazu alles pikobello gepflegt. Was konnte es Schöneres geben?
Abends gehörte der Platz mir allein. Ein bisschen verwundert war ich schon, dass ich hier, mitten im August, niemanden antraf.
Welche Schwierigkeiten es bereiten konnte, seine Kontaktlinsen im Freien einzusetzen, musste ich am nächsten Morgen feststellen, als mir diese im Gegenwind um Haaresbreite am Auge vorbeiflatterten und schließlich auf der Erde landeten.
Darum weiter mit Brille!
Still und nur spärlich beleuchtet lag der Friedhof von Umeå in der Abenddämmerung. Zu später Stunde radelte ich – schon etwas schläfrig geworden – daran vorbei. Plötzlich legten sämtliche Rasensprenger gleichzeitig los und vollführten, sich emsig im Kreis drehend, einen spritzigen Wassertanz. „Oh, wie aufmerksam, ein erfrischender Willkommensgruß!“, freute ich mich und war schlagartig hellwach!
Im morgendlichen Stadtzentrum von Umeå waren die Vorbereitungen für ein Klassik-Kammermusikfestival in vollem Gange. Es wurden Bühnen errichtet, Autos verschiedener Radiostationen parkten nahe am Ort des Geschehens, Menschen machten es sich schon auf den Rasenflächen vor den Bühnen gemütlich. Eine festliche Stimmung lag in der Luft.
In Sachen Kunst und Kultur hat die bisher nördlichste europäische Kulturhauptstadt (2014) ohnehin einiges zu bieten. Der Skulpturenpark Umedalen beispielsweise umfasst eine der größten Skulpturensammlungen Nordeuropas mit Werken von Künstlern wie Tony Cragg, Louise Bourgeois, Antony Gormley, Jaume Plensa und Anish Kapoor. Der Park ist ganzjährig geöffnet – 24 Stunden am Tag. Der Eintritt ist frei.
Mittlerweile war es für mich Gewohnheit, in jedem neuen Ort zuallererst die Touristenformation anzusteuern. Die von Umeå ragte unter allen anderen besonders heraus, modern und großartig ausgestattet. Die Lust auf die vom Autobahncharme geprägte Europastraße 4 war mir nun endgültig vergangen, keinen einzigen Zentimeter mehr war ich bereit, auf dieser gefährlichen Strecke zurücklegen. Darum wollte ich mich in der Touristeninformation von Umeå nach einer Alternativroute erkundigen. Eine bessere Auskunft konnte ich nicht bekommen: Der Angestellte fertigte für mich sogar die Farbkopie einer Karte an. „Just for you“, meinte er.
So kam es, dass ich wenig später über die hundert Jahre alte (ehemalige) Autobahn, über die in ganz früher Zeit die Pferdekutschen holperten, in Richtung Nordmalig radelte.
Die im Jahre 1762 errichtete Eisenhütte von Olofsfors (Olofsfors bruk), Schwedens älteste Eisenhütte, wollte ich mir etwas genauer anschauen. Noch ein bisschen Kultur konnte nach den physischen Strapazen der vergangenen Tage ganz gewiss nicht schaden.
Bestens erhalten, gehört die Eisenhütte mit 25.000 Besuchern im Jahr zu den meistbesuchten Touristenattraktionen der Region. Am 13. August war ich dort die einzige Besucherin und konnte mir das Areal mit Hochofen, wasserbetriebenem Eisenhammer mit Blasebalg, Eisenschmiede, Uhrenmanufaktur, Ausstellungswerkstätten, Kolonial- und Gemischtwarenladen sowie dem Museumsdorf mit Herrenhof und Arbeiterhäuser aus den 60er-Jahren ungestört anschauen.
Am Hochofen wurde auf Tafeln veranschaulicht, unter welch harten Bedingungen die Arbeiter damals schuften mussten. Dagegen kam mir meine Radtour wie ein Spaziergang vor.
Am späten Nachmittag, als die Leiterin des Museumsdorfes die Kettenschmiede abschließen wollte, war sie erstaunt, mich noch anzutreffen. Angesichts des einsetzenden Regens bot sie mir an, mein Nachtlager in der Kettenschmiede aufzuschlagen. Ich solle aber ein Auge offen halten, denn in der Schmiede würde es spuken. Inmitten von Ketten, Schmiedehammer und Gebälk richtete ich mich wie es nur irgendwie ging, ein. Wann hat man schon so einen einzigartigen Schlafplatz?
In der Nachbarhütte brannte noch Licht. Neugierig verließ ich meine eiserne Schlafstätte noch einmal, um zu ergründen, warum. Zu später Stunde war da noch ein Künstler am Werk: Stefan Markström. In einer der zu Werkstätten umgebauten Hütten hatte er sein Atelier eingerichtet und ließ mich nun bei seiner Arbeit über die Schulter schauen. Seine eindrucksvollen Porträts und ausdrucksstarken Skulpturen können im bereits erwähnten Skulpturenpark von Umeå bewundert werden.
Örnsköldsvik war eine Stadt in der schwedischen Provinz Västernorrlands län, die ich nur im Dunkeln kennenlernen sollte. Motorräder, Limousinen, schick angezogene Menschen tummelten sich auch spät abends noch auf den Straßen. Allgemeine Feierlaune war angesagt. Am Hafen fand ein Konzert statt. Für ein paar Minuten vergaß ich meine Sorge um den noch nicht gefundenen Schlafplatz, setzte mich etwas abseits auf eine Bank, lauschte den Klängen und sog die quietschfidele Samstagabendstimmung in mich ein.
In Gävle waren die Straßen überwiegend rechtwinklig angelegt.
Da es bereits dunkel war, als ich die Stadt an der Mündung des Gävleåns in den Bottnischen Meerbusen erreichte, konnte ich von der Straße aus bequem in die hell erleuchteten Lokale schauen, und auch dort das muntere Treiben beobachten.
Die Tage vergingen in Windeseile, es war August und nun schon um 21 Uhr stockdunkel. Die Nächte waren mit 9 Grad Celsius bereits empfindlich kühl.
An einer Badestelle hinter Gävle hielt ich an, um mein Zelt auf der Wiese aufzustellen. Ein Auto schien mir gefolgt zu sein. Es fuhr ebenfalls auf die Wiese, mir entgegen, blendete mich mit seinen Scheinwerfern - und drehte dann glücklicherweise ab. Ich atmete auf.
Dennoch war an Einschlafen vorerst nicht zu denken, denn ein Tier, vermutlich ein Igel, schmatzte ungeniert ganz nahe an meinem Kopfende.
Eintönig verlief die Strecke um Björklinge in Mittelschweden und es wurde ungewöhnlich windstill. Meine Freude über den abhanden gekommenen Gegenwind währte aber nur kurz. Denn schlagartig verdunkelte sich der Himmel. Ich wurde nervös. Panik breitete sich in mir aus, als eine weiße Wand wie eine Riesenwelle auf mich zukam. Beinahe wäre ich vom Rad gekippt. Binnen Millisekunden war ich klatschnass. Fette, prallgefüllte Hagelkörner prasselten vom Himmel herunter. Sie drohten mich zu erdrücken. Ich konnte kaum Luft holen, so schwer war die Last. Als ob ein ganzes Schwimmbad auf einmal über mir entleert worden wäre. Ohne Helm hätte ich die schlagende Wucht der Wassermassen vermutlich nicht überstanden.
Autos blieben am Straßenrand stehen. Immerhin saßen deren Insassen im Trockenen. Als Radfahrerin war ich der Naturgewalt ausgeliefert. Ich stieg ab und rannte samt Rad wie blind durch das kniehohe Wasser. Genauso gut hätte ich schwimmen können. Nirgendwo eine Möglichkeit, mich unterzustellen. Diese Sturzflut kam mir unendlich lang vor. Stück für Stück arbeitete ich mich vorwärts (Was blieb mir auch anderes übrig?), bis schließlich ein schmaler Feldweg auftauchte – von kleinen Bäumen gesäumt. Da stand ich nun unter einem dieser Bäumchen, ganz und gar von Nässe durchdrungen und konnte kaum fassen, was da eben passiert war.
Stunden später grollte es noch immer. Inzwischen diente mir ein Bushaltestellenhäuschen als Wäscheständer.
„Uppsala!“ staunte ich am Ortseingangsschild von Uppsala. Trotz des sintflutartigen Hagelschauers war ich ein gutes Stück vorangekommen.
Aus weiter Ferne sah ich den Dom St. Erik imposant aus der städtischen Kulisse herausragen. Er ist mit seinen 118,70 Metern das höchste Kirchengebäude Skandinaviens. Der gotische Dom ist Krönungs- und Grabstätte vieler schwedischer Könige. Auch der Naturforscher Carl von Linné, Begründer der modernen biologischen Systematik zur Klassifizierung der Tiere und Pflanzen, liegt im Eriksdom begraben. Linné, ortsansässiger Professor für Anatomie, Medizin und Botanik, gründete in Uppsala ein naturhistorisches Museum und legte einen botanischen, nach Klassen und Ordnungen der Pflanzen gestalteten Garten an.
Dieser Garten existiert noch heute – als einer der ältesten botanischen Gärten Schwedens.
Ich stattete ihm einen kurzen Besuch ab, bevor es weiterging.
Die Auswahl meiner Schlafplätze gestaltete sich zunehmend schwierig.
Nicht, weil es keine geeigneten Wildcamping-Stellen in Mittelschweden gab, sondern weil ich von Mal zu Mal wählerischer wurde. Mir fiel immer ein Grund ein, noch weiterzusuchen.
In Norrviken, einem Bezirk der Gemeinde Sollentuna, kurz vor Stockholm, konnte ich mich für keinen der möglichen Schlafplätze entscheiden. Schon wurde es düster, Nieselregen sorgte für ungemütliche Kühle, der Magen knurrte.
Auf in den nächstgelegenen Supermarkt! Vor dem Salatregal sprach mich Temme aus Eritrea an. Er hatte mich und mein vollbepacktes Rad draußen gesehen und wollte nun wissen, wo ich herkomme und wo es hingehen würde. Seine Neugier hatte einen Hintergrund: Der Mann mit den Dreadlocks berichtete von einer Freundin, die die große Panamericana-Route von Alaska nach Feuerland alleine mit dem Rad bewältigt hatte. Eine Wahnsinnsroute, auf die ich mich eines Tages auch gerne begeben würde. Verglichen mit meiner beschaulichen Ostseerundfahrt hat wohl die Strecke auf dem amerikanischen Kontinent das höhere Gefahrenpotenzial.
Beispielsweise haben dort Radtouristen das höchst seltene Vergnügen, Grizzlybär-Bären in ihrem natürlichen Lebensraum zu begegnen.
Anteilnehmend erkundigte sich Temme, ob ich schon wisse, wo ich die Nacht verbringen würde. Ob er denn etwas empfehlen könne, fragte ich zurück? Seine Empfehlung war das perfekte Quartier für die Nacht: eine Art Begegnungsstätte, die sich Temme mit seinen Freunden aus der afrikanischen Gemeinschaft eingerichtet hatte, mit Sofa, Tischtennisplatte, Küche und Bad. Beinahe zu luxuriös für meine Ansprüche! Die Heizung lief auf Hochtouren.
Nach einem blitzschnellen Tischtennis-Match am Abend verabschiedete sich Temme von mir, um in die eigenen vier Wände und zu seiner Familie zurückzukehren. Ich schlief einige Minuten später tief und fest auf dem komfortablen Sofa, direkt neben der Tischtennisplatte.
Von meiner Luxus-Unterkunft in Norrviken aus meinen Weg fortsetzend, ging es am folgenden Tag direkt nach Stockholm. Jetzt waren die Radwege lückenlos ausgeschildert, verliefen oft zweispurig und befanden sich in einem Topzustand. Es war so gut wie unmöglich, sich hier zu verfahren. Es waren unzählige Radfahrer unterwegs, aber auch „Skifahrer“ auf Rollen. Womöglich eine neue schwedische Trendsportart, vermutete ich. Die Sonne wich mir nicht von der Seite und so fuhr ich bestens gelaunt in Stockholm ein. Die Hauptstadt war voller Menschen und wirkte quicklebendig. In Anbetracht der vielen Sehenswürdigkeiten war mein eingeplanter Kurzbesuch für einen Tag zu knapp bemessen. Doch ich nutzte die Zeit, die mir für Schwedens Hauptstadt blieb, und radelte über das alte Pflaster der „Gamla stan“ (Altstadt) bis zum riesigen barocken königlichen Schloss – mit seinen sechshundert Zimmern eines der größten der Welt – und warf einen Blick auf die Wachparade im Vorhof.
Auf dem Balkon Stockholms, dem Aussichtspunkt Fjällgatan auf Södermalm, genoss ich schwedisches Softeis und den herrlichen Panoramablick über die Stadt auf den vierzehn Inseln.
In der Bucht von Norrköping, da wo die schönsten Schärengebiete Schwedens liegen, lernte ich Jürgen, den zweiten auf meiner Ostseereise, kennen. Der Rheinländer hatte in der Ortschaft Nävekvarn sein Sommerhäuschen errichtet und tankte dort während der Sommermonate jedes Jahr neue Energie. Nach einem kurzen Kennenlernen-Smalltalk lud er mich ein, sein Haus zu besichtigen, wo er mir Strom, Wasser und Proviant anbot. Dankend nahm ich seine Gastfreundschaft und all die guten Gaben an. Während mein Handy auflud, tranken wir Kaffee, und Jürgen erzählte Anekdoten über seine zahlreichen Übernachtungsgäste, die er über die Internetplattform „Couchsurfing“ kennengelernt hatte. Es waren wirklich verrückte Geschichten. Ich hätte noch Stunden zuhören können, doch ich war unruhig, weil ich weitermusste.
An diesem Tag lag ein wichtiger Meilenstein am Wegesrand: Mein Tacho zeigte mir die 5000-Kilometer-Marke! Ein Hauch von Stolz umwehte mich. Hatte ich den unvergleichlich harten Brocken durch den schwedischen Norden zu guter Letzt doch bezwungen! Die nun folgenden Etappen sollten nichts weiter als ein Kinderspiel werden. Und tatsächlich fuhr ich von nun an wie von selbst durch wunderschöne, geheimnisvolle Wälder, hügelige Landidylle und vorbei an einsamen, weitläufigen Weideflächen für Schafe, Ziegen und Kühe – durch das schwedische Märchenland.
Kurz vor der ehemaligen Industriestadt Norrköping, in der Provinz Östergötland, überholte mich eine Radtouristin gleich dreimal. Sie war ähnlich befrachtet wie ich, trug aber auf der schnellbefahrenen Straße keinen Helm. Der Sache wollte ich auf den Grund gehen und zog deshalb mein eher gemächliches Tempo an, um an der flinken Radlerin dranzubleiben. Anlässlich des dritten Überholmanövers meinerseits gab sie mir ein Zeichen, anzuhalten.
An-Sofie hieß die waghalsige Radfahrerin. Sie kam aus Belgien und war dort als junge Hausärztin in eigener Praxis tätig. Sie sprach neben Englisch weitere Sprachen, darunter – ziemlich gut Deutsch. In Schweden, erzählte sie mir, habe sie ein Drittel ihres sechswöchigen Urlaubs radfahrend und campend verbracht, bevor es für zwei weitere Wochen mit dem Rucksack nach Grönland und anschließend noch einmal für zwei Wochen an die französische Côte d’Azur gehen würde. Was für ein fantastischer Plan!
Wir verstanden uns auf Anhieb und beschlossen, den Rest des Weges bis Norrköping (nebenbei bemerkt: k in Norrköping wird wie sch ausgesprochen.) gemeinsam zurückzulegen.
Als wir in Norrköping eintrafen, war der Nachmittag bereits am Ausklingen. Ob ich Lust habe, zu ihrem Warmshowers-Gastgeber Peter, auf dessen Rad sie übrigens in den letzten zwei Wochen getourt war, mitzukommen, fragte mich meine Begleiterin. Erfreut nahm ich diese Einladung an. Auch Peter, der Gastgeber, hatte keine Einwände.
So kam ich an diesem Abend in den Genuss einer schmackhaften Quiche, die An-Sofie anlässlich ihres Abschieds von Schweden gebacken hatte. Und ich genoss es, den Abend in guter Gesellschaft zu verbringen.
Am Morgen des 20. August verabschiedeten wir uns herzlich, und ich wünschte An-Sofie das Beste für ihre Grönlandreise. Dann setzte ich meinen Weg in Richtung Linköping, der fahrradfreundlichen Studentenstadt, fort.
Von herrlichstem Sonnenschein begleitet, radelte ich am 21. August durch Småland (deutsch: „Kleines Land“), in der heutigen Provinz Kalmar län. Dort führte mich mein Weg von Linköping nach Vimmerby.
Vimmerby empfing mich als äußerst beschaulicher Ort. Weil er einiges zu bieten hat, war er von Touristen gut besucht. Hohe Eintrittspreise und Zeitmangel veranlassten mich, mich auf die Auswahl von zwei Attraktionen zu beschränken.
Zunächst entschied ich mich für Astrid Lindgrens Näs, den Hof, auf dem die berühmte Kinder- und Jugendbuchautorin Anfang des vergangenen Jahrhunderts geboren und aufgewachsen war. Hier war sie – der Überlieferung nach – in den Limonadenbaum geklettert und hatte mit ihren Geschwistern im Tischlerschuppen gespielt.
Mein zweiter Anlaufpunkt in Vimmerby hieß Astrid Lindgrens Värld („Astrid Lindgrens Welt“), ein Erlebnispark mit Schauplätzen aus den beliebten Geschichten der Autorin.
Der Park war durch einen Stacheldrahtzaun abgeschirmt und glich – von außen betrachtet – einem Hochsicherheitstrakt. Der Eingang war einzig durch eine schmale Drehkreuztür passierbar.
Noch über den stolzen Eintrittspreis grübelnd, stand ich zufällig vor dem Tor, das vermutlich den Personaleingang absperrte. Ich überlegte hin und her, ob ich mir den teuren Spaß wirklich leisten wollte. Da plötzlich – wie von Geisterhand – öffnete sich das Tor. Niemand fuhr hinein, niemand kam heraus. Den Gedanken, dass das Tor extra für mich geöffnet worden wäre, verwarf ich schnell wieder. Andererseits sollte es nun nicht umsonst offen stehen: Also gab ich mir einen Ruck und rollte samt Drahtesel hindurch. Unbemerkt war ich im Personalbereich von Astrid Lindgrens Värld gelandet. Sogar Fahrradständer standen bereit. Ich brauchte mein Rad nur noch anzuschließen und mich ins Getümmel zu stürzen.
An diesem Augustwochenende kletterten die Temperaturen noch einmal über die 35 Grad.
Pipi, Michel, Karlsson und Co besuchte ich übrigens im Sommer 2018 nicht zum ersten Mal. Vor über 20 Jahren bereisten wir in Familie schon einmal Schweden und besuchten Astrid Lindgrens Värld. Jetzt stand ich an denselben Plätzen wie damals in Kindertagen. Und als ob die Zeit stehen geblieben wäre, fanden noch immer die musikalischen Aufführungen in der Villa Kunterbunt wie auch rund um die Mattisburg statt. Wo ich hinschaute, tummelten sich Kinder, sie stürmten aus den Haustüren der Miniaturhäuser heraus, schauten aus den Fensterchen oder lauschten den munteren Liedern.
Doch als sich der Abend neigte, musste ich meine Zeitreise beenden und Abschied vom Ort schöner Kindheitserinnerungen nehmen.
Als ich abermals vor dem magischen Tor stand, öffnete es sich erneut und entließ mich in die Realität. Ich war zurück in der Gegenwart des heißen schwedischen Spätsommerabends.
Regen in Hultsfred. Regen in Oskarshamn. Regen in Målilla.
Vor der Nässe flüchtend, verirrte sich ein Ohrenkneifer in mein Zelt. In der Nacht, als ich bereits friedlich schlummerte, plumpste der ungebetene Mitbewohner geräuschvoll von der Decke. Sofort war ich hellwach und hatte nicht eher Ruhe, bis das Viech eingefangen und nach draußen befördert wurde.
Am nächsten Tag beschlich mich leise Vorahnung, sodass ich mein Zelt etwas früher aufstellte. Und tatsächlich fing es – unmittelbar nachdem ich damit fertig war – wieder einmal wie aus Eimern zu schütten an. Weit und breit war alles nass. Irgendetwas in der näheren Umgebung klickte vor sich hin. Wahrscheinlich ein Kurzschluss in der Laternenleitung, die sich gefährlich nah an meinem Zelt entlangschlängelte. Doch mein Zelt gewährte mir Schutz und es ging alles gut.
Auf der Straße am Ortseingang zu Söderåkra, einem Ort in der südschwedischen Provinz Kalmar län, hielt Tomas an. Ob er mir helfen könne, fragte er mich. Tatsächlich war ich zu diesem Zeitpunkt etwas unschlüssig und orientierungslos. Auch, weil mein Handyakku leer war und ich deshalb das GPS nicht nutzen konnte. Tomas bot mir an, meinen Akku in seiner Firma – er führte eine mittelgroße Elektrochipfabrik – aufzuladen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch seine Frau Ewa kennen. Auch sie war unternehmerisch aktiv: Sie stellte Marmelade und Chutneys aus Früchten der Region her.
Da es aus heiterem Himmel zu regnen begann, war vorerst ans Weiterfahren nicht zu denken. So ließ ich mich von Tomas durch seine Fabrik führen. Anschließend zeigte mir Ewa, wie sie Marmelade erzeugte. Hündchen Melo war immer mit von der Partie.
Nach dieser Führung luden mich Tomas und Ewa zu Speis und Trank ein. So überbrückte ich den heftigen Regenschauer auf überaus informative und nahrhafte Weise und genoss die freundliche Gesellschaft der beiden.
Auf dem Weg von Karlskrona nach Karlshamn flogen mir die Äpfel, Birnen und Pflaumen regelrecht in den Mund. Hier in der schwedischen Provinz Blekinge län war die Erntezeit angebrochen: Reife Früchte so weit die Arme reichten! Nach 6000 Kilometern straffer Fahrt war ich im Schlaraffenland angekommen.
Ich radelte gedankenverloren auf den Sommerurlaubsort Åhus zu. Da kam ich auf die Idee, die schwedischen Holzhäuser in all ihren Farben fotografisch einzusammeln. Bald war die Sammlung komplett, nur ein gelbes Holzhaus fehlte mir noch. Davon gab es zahlreiche, deshalb wollte ich ein besonders pittoreskes Exemplar herauspicken.
Als ich es endlich gefunden hatte und mein fotografisches Werk in Angriff nahm, eilten zwei Frauen herbei: Mutter und Schwester der Eigentümerin. Sie wollten nicht, dass ihr Haus fotografiert würde.
Schade, damit hatte ich nicht gerechnet, respektierte aber deren Einspruch und zog von dannen, auf der Suche nach einem anderen schönen Holzhaus in Gelb.
Aufgrund der vielen Touristen steigt die Zahl der Bewohner von Åhus im Sommer bis auf das Dreifache an (Wikipedia). Als Solo-Radfahrerin fühlte ich mich dort zwischen all den (Familien-) Urlaubern etwas einsam. Also fix weiter – auf dem großartigen, überwiegend verkehrsbefreiten Radweg Sydostleden, vorbei an tollen Küstenstrichen, Apfelplantagen und hübschen Orten. Der Sydostleden-Radweg ist rund 270 Kilometer lang und führt von Växjö nach Simrishamn. Zwischendurch hielt ich an einer reich bepflanzten Obstplantage, um Picknick zu machen. Als ich meine Route fortsetzte und mich gerade über die Ebenheit der Strecke freute, wurde es kurz vor Simrishamn wieder deutlich hügeliger.
Bei Ystad fuhr ich mitten in die regenverhangene Dämmerung hinein. Es war menschenleer. Na bitte, die Originalbeleuchtung aus den Wallander-Krimis!
In Ystad, kurz vor Mitternacht, war alles geschlossen. Es gab keinen Grund, dort noch länger zu verweilen, also durchquerte ich die Stadt und stürzte mich tollkühn in den immer stärker auf mich einprasselnden Regen. Der Radweg führte unmittelbar am Küstenstreifen entlang –
ohne Aussicht, vor dem Sturzregen irgendwohin ins
Trockene zu flüchten. Bei Tage war diese Strecke vermutlich atemberaubend schön. Das Tosen der Brandung begleitete meinen Weg. Eine kleine Maus sprang in den Kegel des Scheinwerferlichts. In dieser Dunkelheit tauchte unverhofft eine Raststelle auf. Dort standen vier Bäumchen im Kreis.
In dessen schützende Mitte stellte ich – vom Sturzregen getrieben – in Windeseile mein Zelt auf.
Als ob nichts gewesen wäre, schickte am darauffolgenden Morgen die Sonne wieder ihr strahlendes Antlitz vom Himmel herab.
Ich setzte meinen Weg an der Meeresstraße fort, und schon bald traf ich auf den südlichsten Festlandpunkt sowohl Schwedens als auch der skandinavischen Halbinsel. Von der Markierung an der südlichen Landspitze bis zum nördlichsten Punkt Schwedens, in Treriksröset, beträgt die Entfernung 1572 Kilometer (Luftlinie).
Trelleborg. Von hier aus nahmen die Fähren Kurs auf alle nur erdenklichen Ostseeziele.
Ich steuerte Malmö an.
Als ich am 31. August aus störungsfreiem Schlaf erwachte, war ich fest davon überzeugt, dass es draußen vor dem Zelt heftig regnete. Darum wartete ich vorerst drinnen noch ein Weilchen darauf, dass es aufhörte. Eine Stunde später hatte sich der „Regen“ noch immer nicht gelegt. Weil mich schließlich meine Geduld verließ, spähte ich hinaus – und war verblüfft: Blau wie der Enzian leuchtete der wolkenlose Himmel. Nicht Regen verursachte das Rauschen, nein, es war der Wind, der durch die benachbarte Hecke peitschte. Da hätte ich noch lange warten können!
Auf ging‘s – bei herrlichstem Wetter – nach Malmö.
Der Turning Torso (englisch: sich drehender Rumpf), Skandinaviens höchster Wolkenkratzer, überragt mit seinen 190 Metern alle übrigen Bauwerke Malmös. Dank diesem Gebäude, das im Stil des Dekonstruktivismus erbaut und bei seiner Fertigstellung im Jahre 2005 zu Malmös neuem Wahrzeichen ernannt wurde, konnte ich mich in Schwedens drittgrößter Stadt (nach Stockholm und Göteborg) gut orientieren.
Ohnehin verbrachte ich in Malmö einen erlebnisreichen wie erholsamen Tag mit Stadtrundfahrt und Besuch im Hallenbad Hylliebadet.
Am späten Abend des 31. August verfrachtete ich mein Fahrrad und stieg ein in den Fernreisebus nach Kopenhagen.
Schweden - unendliche Weiten
Fließender hätte der Übergang von Finnland nach Schweden nicht verlaufen können: Die finnische Stadt Tornio und die schwedische Stadt Haparanda liegen hoch oben im Norden eng beieinander und bilden zusammen eine Zwillingsstadt. Grenzkontrollen gibt es keine. Ungefähr dort, wo die politische Grenze verläuft, steht ein riesengroßer blauer Würfel: Ikea. Als ich den sah, war ich mir sicher, in Schweden angekommen zu sein. Mit der Ankunft im neuen Land rutschte ich automatisch in eine andere Zeitzone - nämlich eine Stunde zurück.
Wer gerne Silvester feiert, kann das Feuerwerk in Haparanda-Tornio gleich doppelt sehen. Und das ganz alkoholbefreit.
In der Absicht, den 1589 km langen Europaväg 4 (schwedisch für Europastraße E4), der sich von Haparanda im Norden bis nach Helsingborg im Süden durch ganz Schweden zieht, zu meiden (Autobahncharakter), verfuhr ich mich zum ersten Mal in den unendlichen Weiten Schwedisch Lapplands. Zum Glück führte mich die Irrfahrt dann doch ins beschauliche Küstenörtchen Haparanda Hamn. Dort, versteckt hinter schwedischen Fichten, verbrachte ich die erste Nacht im siebten Land meiner Bernsteintour. Waldarbeiter und Hundebesitzer spazierten am Morgen dicht an meinem Zelt vorbei. Ich grüßte sie freundlich und machte mich, nachdem alles zusammengepackt war, rechtzeitig auf, um die herrliche Morgenstimmung am Nordzipfel der Ostsee einzufangen.
Kalix, an der Mündung des Flusses Kalixälven, hieß mein Tagesziel am 1. August. Überwiegend auf Schotterpisten ging es durch den Wald - bergauf, bergab. Hin und wieder kreuzte ein Rentier meinen Weg. Rentiere haben nämlich auf schwedischen Straßen Vorfahrt. Seelenruhig überqueren sie die Straßen oder nutzen diese als Wanderroute, während Autos vorsichtig hupend, in Schrittgeschwindigkeit an ihnen vorbeimanövrieren. Zu dieser Zeit des Jahres ist das Geweih der Rentiere von zartem Flaum überzogen. Richtig kuschelig sah das aus.
Kurz vor Kalix stieß ich auf ein süßes Café am Wegesrand. Ich war hocherfreut, denn einen Laden hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Zwei junge, blonde Schwedinnen verkauften selbstgemachten Kuchen, Torten und sonstige Leckereien. An der Kasse bekam ich dann allerdings einen Schreck: Weder Schwedische Kronen noch Öre befanden sich in meinem Portemonnaie. Wo sollte ich die jetzt so schnell herbeizaubern? In allen Ländern zuvor ließ sich wunderbar in Euro oder mit EC-Karte zahlen. Der Kuchen lag schon froh lockend auf dem Teller, bereit meinen Bärenhunger zu stillen. Und dann hatte ich tatsächlich unverschämtes Glück: Der Kuchen ging „aufs Haus“.
Gestärkt und hochmotiviert nahm ich meine Fahrt wieder auf. Vor mir lagen in Nord-Süd-Ausdehnung 1500 Kilometer schwedische Küstenstrecke, die ich vom 1. bis 31. August zu absolvieren gedachte.
Noch ahnte ich nichts von den Strapazen, die schon auf mich lauerten und mich in den folgenden Wochen herausfordern würden.
Vorerst durfte ich wählen - zwischen der schnell befahrenen Europastraße E4, überwiegend einspurig, ohne Seitenstreifen und mit eng angrenzenden Leitplanken zu beiden Seiten, und endlos langen, wenig zielführenden Umwegen, die wiederum durch die schönsten und weitläufigsten Naturparks Schwedisch-Lapplands führten.
In der Provinz Norbottens län, wo sich mit dem Kebnekaise der höchste Berg (2.111 m) und dem Hornavan der tiefste See (232 m) Schwedens befinden (Wikipedia), entschied ich mich für die fixere, aber deutlich nervenaufreibendere Variante. Auf diese Weise ließ ich zwar einige Kilometer hinter mir, konnte jedoch weder Natur noch Kultur genießen.
Nachdem ich am 2. August der Europastraße entkommen war, fand ich mich mitten im tiefen Wald an einer herrlich einsamen Stelle, wie geschaffen fürs Zelten, wieder. Hohe Bäume, ein klarer See, ein wackliger Steg und der frische Duft des Waldes machten meinen Aufenthalt zu einem wunderbaren Naturerlebnis. Diese Oase der Ruhe bot mir notwendige Erholung - und ein einmaliges Erlebnis...
Am nächsten Morgen, vor dem Zelt sitzend, bemerkte ich, wie sich mir etwas näherte: Lässig, aber zielstrebig galoppierte ein Rentier mit imposantem Geweih auf mich zu. Unter seinen Hufen vibrierte der Waldboden. Es wollte mich doch nicht etwa umrennen? Gedanklich schon auf einen Angriff vorbereitet, überlegte ich fieberhaft, wo das Messer steckte. Eigentlich, wunderte ich mich, sind diese Tiere doch alles andere als aggressiv. Mir wurde klar, dass das Tier gar nicht mit mir gerechnet hatte und deswegen ganz sicher nicht in feindlicher Absicht kam. Sein Ziel war die Wasserstelle unten am See. Vermutlich kam es jeden Tag zum Trinken hierher. Wahrscheinlich brauchte ich das Rentier nur auf meine Anwesenheit hinzuweisen. So räusperte ich mich geräuschvoll. Und tatsächlich - es blieb sofort perplex stehen, hielt inne, schaute mich an, dachte offensichtlich nach. Dann wirkte es plötzlich verwirrt. Auch ich war unsicher: Wie würde es reagieren?
Von Angesicht zu Angesicht stand fest, wer der Stärkere sein würde.
Überraschenderweise und zu meiner großen Erleichterung schlug das Tier auf einmal einen Haken und lief in großem Bogen an mir vorbei und weiter zur Wasserstelle.
Damit war das Spektakel aber noch nicht vorbei. Auf derselben Route kam nun - abermals in vollem Galopp - das Rentierweibchen samt Jungtier herbei. Mittlerweile routiniert im Umgang mit durstigen Rentieren räusperte ich mich wieder. Diese beiden waren noch etwas vorsichtiger und reagierten schnell. Sie horchten auf und drehten sofort ab. Auf ans sichere Ufer!
Noch Stunden später schlotterten mir die Knie.
Heißer als jeder Tag zuvor war der 3. August. Meine Konzentration litt unter dieser klimatischen Ausnahmesituation enorm. Schließlich passierte das Unvermeidbare: Irgendwo im nordschwedischen Gelände zwischen den Städten Kalix und Råneå bog ich falsch ab und verlor vollkommen die Orientierung. Unglücklicherweise waren inzwischen beide Wasserflaschen bis auf den letzten Tropfen geleert, meine Speisevorräte längst aufgebraucht und ein Laden tauchte weit und breit nicht auf. Verwunderlich war das nicht, ist doch diese Region in der Provinz Norbottons län eine der am dünnsten besiedelten Gegenden Schwedens.
Ziemlich verzweifelt schöpfte ich Wasser aus einem See in die Flaschen, nur, um für den Notfall gewappnet zu sein. Obwohl das Seewasser einen recht sauberen Eindruck machte, sah es in den Trinkflaschen matschig braun aus. Doch auf Verdursten hatte ich keine Lust!
Vor mir lag nichts als unwegsame Strecke - ohne Restaurant, ohne Laden, ohne Tankstelle. Äußerst mühsam ging es nur voran. Jetzt war Zähnezusammenbeißen angesagt! Unter der erbarmungslos gleißenden Sonne kämpfte ich mich saft- und kraftlos voran. Schließlich fiel ich wie ein ausgetrockneter Sack, vollkommen erschöpft, vom Rad. Knie und Ellenbogen hatte ich mir aufgeschrammt, merkte davon aber so gut wie nichts. Um neue Kraft zu schöpfen, blieb ich vorerst liegen. Einem einsam an mir vorüberziehendem Auto winkte ich matt-fröhlich zu. Verständlicherweise fuhr es weiter. Das hier wollte ich aus eigener Kraft bewältigen. Ich weiß bis heute nicht, wie ich an den Ort Töre gekommen war.
Dort jedenfalls plünderte ich sofort den Supermarkt. Die Getränkeabteilung war nach meinem Besuch sichtbar leerer als zuvor.
In Bezug auf die Entfernung verschätzte ich mich in Schweden jeden Tag aufs Neue. Mein Pensum, das ich im Vorfeld grob geplant hatte, konnte ich unmöglich einhalten. Noch dazu stellten mich die extreme Hitze, der Gegenwind und das permanente Auf und Ab vor ungeahnte Herausforderungen. Als ob ich pausenlos gegen einen unüberwindbaren Widerstand anträte, so kam es mir vor.
Zu allem Überfluss überfiel mich am 5. August ein gewaltiges Gewitter - das erste übrigens seit meinem Bernsteinstart im Juni. Immerhin eine kleine Abkühlung! In Raneå fand ich auf der Veranda einer Pizzeria Zuflucht - und Strom für meine elektrischen Geräte. Das Gewitter wütete die halbe Nacht, die zweite Hälfte nutzte ich, um meine Route fortzusetzen. Zwar nieselte es noch zaghaft, aber das störte mich nicht im Geringsten. Gegen drei Uhr ging die Sonne auf und wenig später erreichte ich Luleå, eine Stadt in der nordschwedischen Provinz Norrbottons län. Am Ortseingang eingetroffen übermannte mich bleierne Müdigkeit. Schlaftrunken schleppte ich mich bis zur nächsten hübsch gepflegten Badestelle. Nur kurz ausruhen wollte ich mich dort, schlummerte aber sofort ein und erwachte erst Stunden später wieder…
Mittlerweile - gegen 9:00 Uhr - war in Luleå Leben eingekehrt.
Es war die perfekte Zeit für einen gemütlichen Stadtbummel.
In der Siedlung Lassbacken durchbrach ich schließlich die magische 4000-Kilometer-Marke meiner Bernsteintour. Ich nahm das zum Anlass, um noch einmal auf meine Spendenaktion „Für die Wale an die Pedale“, zu der ich über die Internetplattform des WWF aufrief, hinzuweisen. Jeden Kilometer, den ich auf meiner Radtour zurücklegte, widmete ich den Schweinswalen, die in der Ostsee beheimatet sind. Jede Spende sollte einen Beitrag zum Erhalt dieser seltenen Tiere leisten. Unter dem Stichwort „Lassnochbisschenwasspenden“ wollte ich noch ein paar liebe Spender mobilisieren.
Besonders unter den Schweden und Norwegern gilt die Stadt Piteå, an der Südküste Schwedisch-Lapplands, als beliebtes Urlaubsziel. Cafés, Bars und Restaurants waren an jenem Samstag, an dem ich dort eintraf, gut besucht. Es herrschte ausgelassene Sommerurlaubsstimmung. Ein Straßenmusiker spielte zu Eagle-Eye Cherry´s „Save Tonight“ Gitarre.
Ich bestellte mir ein Bierchen und beschloss, den Abend entspannt ausklingen zu lassen.
Allmählich gewann ich den Eindruck, die Etappen würden immer eintöniger, die Steigungen immer steiler und die Tage immer heißer. Und der Gegenwind war mein ständiger Begleiter. Mit solch einem bergigen Hinterland in Schweden hätte ich nicht einmal im Traum gerechnet.
Täglich musste ich mich aufs Neue motivieren, um das Rad mit Sack und Pack ein gutes Stück voranzutreiben. Wer sollte es auch sonst tun? Da kam er zum Vorschein, der Nachteil des Alleinreisens. Niemand, der mich puschte oder wenigstens nett lächelnd ein paar aufmunternde Worte übrig hatte. Andererseits war Aufgeben keine Option! Nach sieben durchquerten Ländern konnte ich jetzt einfach nicht das Handtuch werfen. Trotzig wie ein kleines Kind fuhr ich weiter. Ich machte mir bewusst, was für ein wunderbares Geschenk diese Reise im Grunde genommen war. Schließlich hatte ich das große Privileg, vier Monate lang nur das zu tun oder zu lassen, was ich wollte. So verwandelte ich Stück für Stück meine Frustration in Dankbarkeit.
Die Landschaft in der nordschwedischen Provinz Västerbottens län war malerisch, geradezu bilderbuchidyllisch. An Fotomotiven jedenfalls mangelte es mir nicht. Doch welch seltenes Naturereignis überraschte mich am 7. August dieses bombastischen Sommers 2018? Richtig: Regen!
Trotz dieses Erfrischungssegens der Natur erreichte ich das verschlafene Örtchen Bastuträsk mehr tot als lebendig. Wie ausgestorben wirkte es auf mich, weit und breit keine Menschenseele. Umso mehr überraschte mich sein Bahnhof. Von außen war er völlig unscheinbar. Doch als ich das Gebäude betrat, staunte ich darüber, dass der Bahnhof alles hatte, was ich mir als Reisende nur wünschen konnte: Touristeninformationsbroschüren, Kaffeeautomaten, kostenfreies Wifi, Tische, Bänke mit Kissen bestückt, eine kleine Reisebibliothek, Kleiderständer mit hübschen Sachen zum Kaufen, Strom, Sanitäranlagen. Und allem voran war es schön warm. Die kühlen Nächte hoch oben im Norden hatten es nämlich selbst im Hochsommer in sich. Da es an diesem Tag nicht aufhören wollte zu regnen, und in Anbetracht des komfortablen Bahnhofs, beschloss ich, dort vorerst auszuharren. Bei dieser Gelegenheit lernte ich die Bahnhofsvorsteher - ein nettes Pärchen - kennen. Deren Angebot, im Bahnhof zu übernachten, nahm ich erschöpft, ausgekühlt und dankbar an. Nach so vielen Tagen der Wanderschaft endlich wieder ein richtiges Dach über dem Kopf zu haben fühlte sich verdammt luxuriös an.
Erstaunlich, welche Kraft der Körper aus dem Schlaf zieht! Am nächsten Tag war ich wieder topfit. Der Vorsteher gab mir noch eine detaillierte Streckenbeschreibung mit auf den Weg und auf ging es in Richtung Vindeln.
Wie geschmiert lief es am 9. August, mit spürbar weniger Steigungen. Dafür durchschlängelten umso mehr Windungen die wunderschöne Wälder- und Seenlandschaft rund um Vindeln am gleichnamigen Gebirgsstrom Vindeln (schwedisch: Vindelälven). Der 450 Kilometer (Wikipedia) lange Fluss gehört zu einem der letzten unberührten Flüsse Europas und darf weder reguliert noch zur Wasserkraftnutzung ausgebaut werden. Mit seinen über 40 Stromschnellen ist er bei Rafting-Sportlern äußerst beliebt.
Unweit von Vindeln machte ich eine ausgesprochen schöne, etwas versteckt gelegene Bade- und Campingstelle ausfindig - mit Sprungturm, Sprungbrettern und einem langen Steg, der in einen klaren, ruhigen Seitenarm des Fluss Vindeln führte. Dazu alles pikobello gepflegt. Was konnte es Schöneres geben?
Abends gehörte mir der Platz allein. Ein bisschen verwundert war ich schon, dass ich hier, mitten im August, keine Menschenseele antraf.
Welche Schwierigkeiten es einem bereiten konnte, seine Kontaktlinsen im Freien einzusetzen, musste ich am nächsten Morgen feststellen, als mir diese im Gegenwind um Haaresbreite am Auge vorbeiflatterten und schließlich auf der Erde landeten.
Darum weiter mit Brille!
Still und nur spärlich beleuchtet lag der Friedhof von Umeå in der Abenddämmerung. Zu später Stunde schon etwas schläfrig geworden, radelte ich daran vorbei, als plötzlich sämtliche Rasensprenger gleichzeitig zu schießen loslegten und sich dann emsig im Kreis drehten. Oh, wie aufmerksam, ein Willkommensgruß!, freute ich mich und war schlagartig hellwach!
Im morgendlichen Stadtzentrum von Umeå waren die Vorbereitungen für ein Klassik-Kammermusikfestival in vollem Gange. Es wurden Bühnen errichtet, Autos verschiedener Radiostationen parkten nahe am Ort des Geschehens, Menschen machten es sich auf den Rasenflächen vor den Bühnen gemütlich. Eine festliche Stimmung lag in der Luft.
In Sachen Kunst und Kultur hat die bisher nördlichste europäische Kulturhauptstadt (2014) ohnehin einiges zu bieten. Der Skulpturenpark Umedalen beispielsweise umfasst eine der größten Skulpturensammlungen Nordeuropas mit Werken von Künstlern wie Tony Cragg, Louise Bourgeois, Antony Gormley, Jaume Plensa und Anish Kapoor. Der Park ist ganzjährig geöffnet – 24 Stunden am Tag. Der Eintritt ist frei.
Mittlerweile hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, in jedem neuen Ort zu allererst die Touristenformation anzusteuern. In Umeå stand ein besonders herausragendes, modernes, großartig ausgestattetes Exemplar. Mir war nun endgültig die Lust auf die vom Autobahncharme geprägte Europastraße E4 vergangen, keinen einzigen Zentimeter mehr war ich bereit, auf dieser Schreckenstrecke zurücklegen. Darum wollte ich mich stattdessen nach einer Alternativroute erkundigen. Eine bessere Auskunft konnte ich nicht bekommen. Der Angestellte in der Touristeninformation fertigte für mich sogar die Farbkopie einer Karte an. „Just for you“, meinte er.
So kam es, dass ich wenig später über die hundert Jahre alte (ehemalige) Autobahn, auf der früher die Pferdekutschen entlangholperten, in Richtung Nordmalig radelte.
Die im Jahre 1762 errichtete Eisenhütte von Olofsfors (Olofsfors bruk), Schwedens älteste Eisenhütte, wollte ich mir etwas genauer anschauen. Ein bisschen Kultur konnte nach den physischen Strapazen der vergangenen Tage ganz gewiss nicht schaden.
Bestens erhalten gehört die Eisenhütte mit 25.000 Besuchern im Jahr zu den meistbesuchten Touristenattraktionen der Region. Am 13. August war ich dort die einzige Besucherin und konnte mir das Areal mit Hochofen, wasserbetriebenem Eisenhammer mit Blasebalg, Eisenschmiede, Uhrenmanufaktur, Ausstellungswerkstätten, Kolonialwarenladen/Gemischtwarenladen und dem Museumsdorf mit Herrenhof und Arbeiterhäuser aus den 60er Jahren ungestört anschauen.
Am Hochofen wurde auf Tafeln veranschaulicht, unter welch harten Bedingungen die Arbeiter damals schuften mussten. Dagegen kam mir meine Radtour wie ein Spaziergang vor.
Am späten Nachmittag, als die Leiterin des Museumsdorfes die Kettenschmiede abschließen wollte, war sie erstaunt, mich noch anzutreffen. Angesichts des einsetzenden Regens bot sie mir an, die Nacht in der Kettenschmiede zu verbringen. Ein Auge sollte ich aber lieber offen halten, in der Schmiede würde es nämlich spuken. Inmitten von Ketten, Schmiedehammer und Gebälk errichtete ich mein Nachtlager und machte es mir so gemütlich wie nur irgendwie möglich. Wann hat man schon so einen phänomenalen, einzigartigen Schlafplatz?
In der Nachbarhütte brannte noch Licht. Neugierig verließ ich mein eisernes Nachtlager noch einmal, um zu ergründen, warum. Zu später Stunde war da noch ein Künstler am Werk: Stefan Markström. In einer dieser zu Werkstätten umgebauten Hütten hatte er sein Atelier eingerichtet. Ich durfte ihm während seiner Arbeit über die Schulter schauen. Seine eindrucksvollen Portraits und ausdrucksstarken Skulpturen können im bereits erwähnten Skulpturenpark von Umeå bewundert werden.
Örnsköldsvik war eine Stadt in der schwedischen Provinz Västernorrlands län, die ich nur im Dunkeln kennenlernen sollte. Motorräder, Limousinen, schick angezogene Menschen tummelten sich auf den Straßen. Allgemeine Feierlaune war angesagt. Am Hafen fand ein Konzert statt. Für ein paar Minuten vergaß ich meine Sorge um den noch nicht gefundenen Schlafplatz, setzte mich etwas abseits auf eine Bank, lauschte den Klängen und sog die quietschfidele Samstagabendstimmung in mich ein.
In Gävle (früher Gefle) waren die Straßen überwiegend rechtwinklig angelegt.
Da es bereits dunkel war, als ich die Stadt an der Mündung des Gävleåns in den Bottnischen Meerbusen erreichte, konnte ich von der Straße aus bequem in die hell erleuchteten Lokale schauen, und das muntere Treiben dort beobachten.
Die Tage vergingen in Windeseile und es war nun bereits 21 Uhr stockdunkel. Die Nächte waren mit 9°Celsius außerdem empfindlich kühl.
An einer Badestelle hinter Gävle hielt ich an, um mein Zelt auf der Wiese aufzustellen. Ein Auto schien mir gefolgt zu sein. Es fuhr ebenfalls auf die Wiese, dann mir entgegen, blendete mich mit seinen Scheinwerfern und drehte dann glücklicherweise ab. Ich atmete auf.
Dennoch war an Einschlafen vorerst nicht zu denken, denn ein Tier (vermutlich ein Igel) schmatzte ungeniert und laut neben meinem Kopfende.
Eintönig lag die Strecke um Björklinge in Mittelschweden vor mir. Um ein Haar wäre ich vom Rad gekippt, als das Ungeheuerliches passierte: Es wurde ungewöhnlich windstill. Meine Freude über den abhanden gekommenen Gegenwind währte aber nur kurz, denn schlagartig verdunkelte sich der Himmel. Ich wurde nervös. Panik breitete sich aus, als dann eine weiße Wand wie eine Riesenwelle auf mich zukam. Binnen Millisekunden war ich klatschnass. Fette, prallgefüllte Hagelkörner prasselten vom Himmel herunter. Sie erdrückten mich regelrecht. Ich konnte kaum Luft holen, so schwer war die Last. Als ob ein ganzes Schwimmbad auf einmal über mir entleert wurde. Ohne Helm hätte es mich vermutlich erschlagen.
Sämtliche Autos hielten am Straßenrand. Deren Insassen saßen immerhin im Trockenen. Als Radfahrerin war ich dieser Naturgewalt ausgeliefert. Wie blind rannte ich samt Rad durch das kniehohe Wasser. Genauso gut hätte ich schwimmen können. Nirgendwo eine Möglichkeit, mich unterzustellen, kam mir diese Sturzflut unendlich lang vor. Stück für Stück arbeitete ich mich vorwärts (Was blieb mir auch anderes übrig?), bis schließlich ein kleiner Feldweg auftauchte - von Bäumchen gesäumt. Da stand ich nun unter einem Bäumchen, ganz und gar von Nässe durchdrungen und konnte kaum fassen, was da eben passiert war.
Stunden später grollte es noch immer. Inzwischen diente mir ein Bushaltestellenhäuschen als Wäscheständer.
„Uppsala“ staunte ich freudestrahlend am Ortseingangsschild von Uppsala. Trotz des sintflutartigen Hagelschauers war ich ein gutes Stück vorangekommen.
Aus weiter Ferne sah ich den Dom St. Erik imposant aus der städtischen Kulisse herausragen. Er ist mit seinen 118,70 Metern das höchste Kirchengebäude Skandinaviens. Der gotische Dom ist Krönungs- und Grabstätte vieler schwedischer Könige. Auch der Naturforscher Carl von Linné, Begründer der modernen biologischen Systematik zur Klassifizierung der Tiere und Pflanzen, liegt im Eriksdom begraben. Linné, ortsansässiger Professor für Anatomie, Medizin und Botanik, gründete in Uppsala ein naturhistorisches Museum und legte einen botanischen, nach Klassen und Ordnungen der Pflanzen gestalteten Garten an.
Dieser Garten existiert heute noch - als einer der ältesten botanischen Gärten Schwedens. Ich stattete ihm einen kurzen Besuch ab, bevor es weiterging.
Zunehmend schwierig gestaltete sich die Auswahl der Schlafplätze.
Nicht, weil es keine geeigneten Wildcamping-Stellen in Mittelschweden gab, sondern weil ich von Mal zu Mal wählerischer wurde. Mir fiel immer ein Grund ein, noch weiterzusuchen.
In dem Vorörtchen Norvikken, kurz vor Stockholm, konnte ich mich für keinen mehr entscheiden. Schon wurde es düster, Nieselregen sorgte für ungemütliche Frische, der Magen knurrte. Auf in den nächstgelegenen Supermarkt! Vor dem Salatregal sprach mich Temme aus Eritrea an. Er hatte mich draußen mit vollbepacktem Rad gesehen und wollte nun wissen, wo ich herkam, wo es hinging usw. Seine Neugier war nicht unbegründet: Der Mann mit den Dreadlocks erzählte von einer Freundin, die die große Panamericana-Route von Alaska nach Feuerland alleine geradelt war. Eine Wahnsinnsroute, die ich eines Tages auch gerne radeln würde. Verglichen mit meiner beschaulichen Ostseerundfahrt hat die Strecke auf dem amerikanischen Kontinent eindeutig das höhere Gefahrenpotenzial.
Beispielsweise haben Reiseradler dort das höchst seltene Vergnügen, Grizzlybär-Bären in ihrem natürlichen Lebensraum zu begegnen.
Anteilnehmend erkundigte sich der Schwede aus Eritrea, ob ich schon wisse, wo ich die Nacht verbringen würde. Ich verneinte seine Frage. Ob er denn etwas empfehlen könnte, fragte zurück? Keine Empfehlung hatte er für mich, sondern das perfekte Quartier für die Nacht: eine Art Begegnungsstätte, die sich Temme mit seinen Freunden aus der afrikanischen Gemeinschaft eingerichtet hatte, mit Sofa, Tischtennisplatte, Küche und Bad. Beinahe zu luxuriös für meine Ansprüche! Die Heizung lief angenehmerweise auf Hochtouren.
Nach einem blitzschnellen Tischtennis-Match verabschiedete sich Temme von mir, um in die eigenen vier Wände und zu seiner Familie zurückzukehren. Einige Minuten später schlummerte ich tief und fest auf dem komfortablen Sofa, direkt neben der Tischtennisplatte.
Von meiner Luxus-Unterkunft in Norvikken aus meinen Weg fortsetzend ging es am folgenden Tag direkt nach Stockholm. Jetzt waren die (Rad-)Wege lückenlos ausgeschildert, verliefen oft zweispurig und befanden sich in einem Topzustand. Es war so gut wie unmöglich, sich hier zu verfahren. Unzählige Radfahrer waren unterwegs, aber auch Skifahrer rollten den Weg entlang. Womöglich eine neue schwedische Trendsportart, vermutete ich. Die Sonne wich mir nicht von der Seite und so fuhr ich bestens gelaunt in Stockholm ein. Die Hauptstadt wirkte quicklebendig und war voller Menschen. In Anbetracht der vielen Sehenswürdigkeiten war mein eingeplanter Kurzbesuch für einen Tag zu knapp bemessen. Doch ich nutzte die Zeit, die mir für Schwedens Hauptstadt blieb, und radelte über das alte Pflaster der Gamla Stan (Altstadt) bis zum riesigen barocken königlichen Schloss - mit seinen 600 Zimmern eines der größten der Welt - und warf einen Blick auf die Wachparade im Vorhof.
Auf dem Balkon Stockholms, dem Aussichtspunkt Fjällgatan auf Södermalm, genoss ich schwedisches Softeis und den herrlichen Panoramablick über die Stadt auf den 14 Inseln.
In der Bucht von Norrköping, da wo die schönsten Schärengebiete Schwedens liegen, lernte ich Jürgen, den zweiten auf meiner Ostseereise, kennen. Der Rheinländer hatte in der Ortschaft Nävekvarn sein Sommerhäuschen errichtet und tankte dort während der Sommermonate jedes Jahr neue Energie. Nach einem kurzen Kennenlernen-Smalltalk lud er mich ein, sein Haus zu besichtigen, wo er mir unfassbar gastfreundlich Strom, Wasser, Proviant anbot. Dankend nahm ich all die guten Gaben an. Während mein Handy lud, tranken wir gemütlich einen Kaffee, und Jürgen erzählte einige Anekdoten über seine zahlreichen Übernachtungsgäste, die er über die Internetplattform „Couchsurfing“ kennengelernt hatte. Es waren wirklich verrückte Geschichten. Ich hätte noch Stunden zuhören können, doch ich war unruhig, weil ich weitermusste.
An diesem Tag lag ein wichtiger Meilenstein am Wegesrand, mein Tacho zeigte ihn mir an: die 5000-Kilometer-Marke! Ein Hauch von Stolz umwehte mich. Hatte ich den unvergleichlich harten Brocken durch den schwedischen Norden zu guter Letzt doch bezwungen! Die nun folgenden Etappen sollten nichts weiter als ein Kinderspiel werden. Und tatsächlich fuhr ich von nun an wie von selbst durch wunderschöne, geheimnisvolle Wälder, hügelige Landidylle und einsame, weitläufige Weideflächen für Schafe, Ziegen und Kühe - durch das schwedische Märchenland.
Kurz vor der ehemaligen Industriestadt Norrköping überholte mich eine Reiseradlerin gleich dreimal. Sie war ähnlich befrachtet wie ich unterwegs, trug aber auf der schnellbefahrenen Straße keinen Helm. Der Sache wollte ich auf den Grund gehen und zog deshalb mein eher gemütliches Tempo an, um an der flinken Radlerin dranzubleiben. Anlässlich des dritten Überholmanövers meinerseits gab sie mir ein Zeichen, zum Unterhalten anzuhalten.
An-Sofie hieß die waghalsige Radfahrerin. Sie kam aus Belgien und war dort als junge Hausärztin in eigener Praxis tätig. Sie sprach neben Englisch weitere Sprachen, darunter - ziemlich gut Deutsch. In Schweden, erzählte sie mir, habe sie ein Drittel ihres sechswöchigen Urlaubs radelnd und campend verbracht, bevor es für zwei Wochen rucksackreisend nach Grönland und anschließend für weitere zwei Wochen an die französische Côte d’Azur gehen würde. Was für ein fantastischer Plan!
Wir verstanden uns auf Anhieb und beschlossen, den Rest des Weges bis Norrköping, eine Stadt in der Provinz Östergötland (Nebenbei bemerkt: Das k in Norrköping wird wie sch ausgesprochen.) gemeinsam zurückzulegen.
Als wir in Norrköping eintrafen, war der Nachmittag bereits am Ausklingen. Ob ich Lust habe, zu ihrem Warmshowers-Gastgeber Peter, auf dessen Rad sie übrigens die letzten zwei Wochen getourt ist, mitzukommen, fragte mich meine Begleiterin. Erfreut nahm ich diese Einladung an. Peter, der Gastgeber hatte auch keine Einwände.
So kam ich an diesem Abend in den Genuss einer selbstgemachten Quiche, den An-Sofie anlässlich ihres Abschieds von Schweden gebacken hatte, und verbrachte den Abend zur Abwechslung in guter Gesellschaft.
Am Morgen des 20. August verabschiedeten wir uns herzlich, und ich wünschte An-Sofie das Beste für ihre Grönlandreise. Dann setzte ich meinen Weg in Richtung Linköping, der fahrradfreundlichen Studentenstadt, fort.
Von herrlichstem Sonnenschein begleitet, radelte ich am 21. August durch Småland (deutsch: „Kleines Land“), in der heutigen Provinz Kalmar län. Dort führte mich mein Weg von Linköping nach Vimmerby.
Vimmerby empfing mich als äußerst beschauliches Örtchen. Und Vimmerby hat einiges zu bieten, war darum von Touristen ziemlich gut besucht. Hohe Eintrittspreise und Zeitmangel veranlassten mich, zwei Attraktionen auszuwählen.
Zunächst entschied ich mich für Astrid Lindgrens Näs, den Hof, auf dem die berühmte Kinder- und Jugendbuchautorin Anfang des vergangenen Jahrhunderts geboren und aufgewachsen war. Hier war sie - der Überlieferung nach - in den Limonadenbaum geklettert und hatte mit ihren Geschwistern im Tischlerschuppen gespielt.
Mein zweiter Anlaufpunkt in Vimmerby hieß Astrid Lindgrens Värld („Astrid Lindgrens Welt“), ein Erlebnispark mit Schauplätzen aus den beliebten Geschichten der Autorin.
Der Park war durch einen Stacheldrahtzaun abgeschirmt und glich - von außen betrachtet - einem Hochsicherheitstrakt. Der Eingang war einzig durch eine schmale Drehkreuztür passierbar.
Den stolzen Eintrittspreis durchdenkend, stand ich zufällig vor dem Tor, das vermutlich den Personaleingang absperrte. Ich überlegte hin und her, ob ich mir den teuren Spaß wirklich leisten wollte. Da - wie von Geisterhand - öffnete sich plötzlich das Tor von selbst. Niemand fuhr hinein, niemand kam heraus. Den Gedanken, dass das Tor extra für mich geöffnet worden wäre, verwarf ich schnell wieder. Andererseits sollte es nun nicht umsonst offen stehen, also gab ich mir einen Ruck und rollte samt Reiserad hindurch. Unbemerkt war ich mitten im Personalbereich von Astrid Lindgrens Värld gelandet. Sogar Fahrradständer standen bereit. Ich brauchte mein Rad nur noch anzuschließen und mich anschließend ins Getümmel zu stürzen…
An diesem spätsommerlichen Augustwochenende kletterten die Temperaturen noch einmal über die 35-Grad-Marke.
Übrigens besuchte ich Pipi, Michel, Karlsson und Co im Sommer 2018 nicht zum ersten Mal. Vor über 20 Jahren bereisten wir in Familie schon einmal Schweden und besuchten Astrid Lindgrens Värld. Jetzt stand ich an denselben Plätzen wie damals. Und als ob die Zeit stehen geblieben wäre, fanden noch immer die musikalischen Aufführungen in der Villa Kunterbunt oder rund um die Mattisburg statt. Wo ich auch hinschaute, tummelten sich Kinder, stürmten aus den Haustüren der Miniaturhäuser heraus, schauten aus den Fensterchen oder lauschten den munteren Liedern.
Just als ich endlich zur Abfahrt bereit abermals vor dem Tor stand, öffnete es sich erneut und entließ mich von meiner Reise in die Vergangenheit. Ich war zurück in der Gegenwart des heißen schwedischen Spätsommerabends.
Regen in Hultsfred. Regen in Oskarshamn. Regen in Malilla.
Vor lauter Nässe verirrte sich ein Ohrenkneifer in mein Zelt. Nachts, als ich bereits friedlich schlummerte, plumpste der unerwünschte Mitbewohner geräuschvoll von der Decke. Ich war sofort hellwach und hatte nicht eher Ruhe, bis das Viech eingefangen und nach draußen befördert wurde.
Instinktiv stellte ich mein Zelt am nächsten Tag etwas früher auf. Und tatsächlich fing es - unmittelbar nachdem ich damit fertig war - wieder wie aus Eimern zu schütten an. Weit und breit war alles nass. Irgendetwas in der näheren Umgebung klickte vor sich hin. Ein Kurzschluss in der Laternenleitung, die sich gefährlich nah an meinem Zelt entlangschlängelte, befürchtete ich.
Auf der Straße am Ortseingang zu Söderåkra, einem Ort in der südschwedischen Provinz Kalmar län, hielt Tomas extra meinetwegen an. Ob er mir helfen könne, fragte er mich. Tatsächlich war ich zu diesem Zeitpunkt etwas unschlüssig und orientierungslos. Auch, weil mein Handyakku leer war und ich deshalb GPS nicht nutzen konnte. Tomas bot mir freundlicherweise an, meinen Akku bei sich in der Firma - er führte eine große Elektrochipfabrik - aufzuladen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch seine Frau Eva kennen. Sie stellte in Eigenproduktion Marmelade und Chutneys aus Früchten der Region her.
Da es aus heiterem Himmel zu regnen begann und deshalb vorerst an Weiterfahren nicht zu denken war, kam ich in den Genuss einer exquisiten Führung durch Tomas‘ Elektrochip-Fabrik, und anschließend zeigte mir Eva, wie sie Marmelade erzeugte. Hündchen Melo war immer mit von der Partie.
Nach dieser Führung wurde ich noch zu Speis und Trank eingeladen. So überstand ich diesen heftigen Regenschauer unbeschadet und genoss die freundliche Gesellschaft der beiden sehr.
Auf dem Weg von Karlskrona nach Karlshamn flogen mir die Äpfel, Birnen und Pflaumen regelrecht in den Mund. Hier in der schwedischen Provinz Blekinge län war die Erntezeit angebrochen: reife Früchte so weit die Arme reichten. Nach 6000 Kilometern straffer Fahrt war ich verdientermaßen im Schlaraffenland angekommen.
Gedankenverloren auf den Sommerurlaubsort Åhus zuradelnd kam ich auf die Idee, schwedische Holzhäuschen in allen möglichen und unmöglichen Farben fotografisch einzusammeln. Bald war die Sammlung komplett, nur ein gelbes fehlte mir noch. Von dieser Farbe gab es zahlreiche Häuschen, deshalb wollte ich ein besonders schickes Exemplar herauspicken.
Als ich es endlich gefunden hatte und bereits zu knipsen begann, kamen zwei Frauen aufgeregt herbeigeeilt. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Mutter und Schwester der Eigentümerin. Sie wollten nicht, dass ich ihr Haus fotografierte. Schade, damit hatte ich nicht gerechnet, respektierte aber deren Einspruch und zog unverrichteter Dinge von dannen.
Im Sommer steigt die Zahl der Einwohner von Åhus aufgrund der vielen Touristen bis auf das Dreifache an (Wikipedia). Ich als einzelne Radfahrerin fühlte mich dort zwischen all den (Familien-) Urlaubern etwas einsam. Also fix weiter - auf dem großartigen, überwiegend verkehrsbefreiten Radweg Sydostleden, vorbei an tollen Küstenstrichen, Apfelplantagen und hübschen Örtchen. Der Sydostleden-Radweg ist rund 270 km lang und führt von Växjö nach Simrishamn. Zwischendurch hielt ich an einer reich bestückten Obstplantage, um ein Picknick zu veranstalten und gerade, als ich mich, meine Route fortsetzend, über die Ebenheit der Strecke freute, wurde es kurz vor Simrishamn wieder deutlich hügeliger.
Bei Ystad fuhr ich mitten in die regenverhangene Dämmerung hinein. Es war menschenleer. Na bitte, die Originalbeleuchtung aus den Wallander-Krimis, freute ich mich über die authentische Abbildung.
Mittlerweile, kurz vor Mitternacht, war in Ystad alles geschlossen. Ich fand keinen Grund, noch länger dort zu verweilen, also durchquerte ich die Stadt bloß und stürzte mich tollkühn in den immer stärker auf mich einprasselnden Regen. Der Radweg führte unmittelbar am Küstenstreifen entlang - ohne Aussicht, mich vor dem Sturzregen irgendwo ins Trockene zu bringen. Bei Tage war diese Strecke vermutlich atemberaubend schön. Das Tosen der Brandung hörte ich laut und deutlich neben mir. Inmitten der Dunkelheit sprang eine kleine Maus in den Kegel des Scheinwerferlichts. Unverhofft tauchte eine einsame Raststelle auf. Dort standen vier Bäumchen im Kreis, in dessen schützende Mitte stellte ich - vom Sturzregen getrieben - in Windeseile mein Zelt auf.
Als ob nichts gewesen wäre, schien am darauffolgenden Morgen wieder strahlend die Sonne vom Himmel herab.
Ich setzte meinen Weg an der Meerstraße fort, und schon bald traf ich auf den südlichsten Festlandpunkt sowohl Schwedens als auch der skandinavischen Halbinsel. Von der Markierung an der Landspitze bis zum nördlichsten Punkt Schwedens, in Treriksröset, beträgt die Entfernung 1572 Kilometer Luftlinie.
Trelleborg. Von hier aus nahmen die Fähren Kurs auf alle nur erdenklichen Ostseeziele.
Ich steuerte weiterhin Malmö an.
Als ich am 31. August aus störungsfreiem Schlaf erwachte, war ich fest davon überzeugt, dass es draußen vor dem Zelt heftig regnete. Darum wartete ich vorerst drinnen noch ein Weilchen. Eine Stunde später hatte sich der „Regen“ noch immer nicht gelegt. Weil mich schließlich meine Geduld verließ, späte ich hinaus - und war verblüfft: Blau wie der Enzian strahlte der wolkenlose Himmel. Nicht Regen verursachte das Rauschen, nein, es war der Wind in einer benachbarten Hecke. Da hätte ich noch lange warten können!
Auf ging es - bei herrlichstem Wetter - nach Malmö.
Der Turning Torso (englisch: Sich drehender Rumpf), Skandinaviens höchster Wolkenkratzer, überragt mit seinen 190 Metern alle übrigen Bauwerke Malmös. Dank diesem Gebäude, das im Stil des Dekonstruktivismus erbaut und bei seiner Fertigstellung im Jahre 2005 zu Malmös neuem Wahrzeichen ernannt wurde, konnte ich mich in Schwedens drittgrößter Stadt (nach Stockholm und Göteborg) problemlos orientieren.
Ohnehin verbrachte ich in Malmö einen wunderbaren Tag mit Stadtrundfahrt und Besuch im Hallenbad Hylliebadet. Am späten Abend des 31. August stieg ich in den Fernreisebus, der mich und mein Fahrrad über die gewaltige Øresundbrücke nach Kopenhagen verfrachtete.
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